Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Leipziger Studentenleben zum Besten – im schönsten Sächsisch, wie man sich vorstellen kann. Nietzsche war hingerissen. Vielleicht nicht ganz zufällig ist die Tatsache, dass Wagner im selben Jahr geboren war wie Nietzsches Vater. Er war fünfundfünfzig jetzt, hatte auf seinen unruhigen Wegen bisher mehr Tiefen als Höhen erlebt, häufig pleite, verschuldet, politisch verfolgt und auf der Flucht vor seinen Gläubigern, dabei bedenkenlos andere ausnehmend, auf der Basis einer Existenz, die ihm seiner Meinung nach zustand, derzeit durch die Gunst des bayerischen Königs zwar in deutlich stabilisierten Verhältnissen lebend, aber noch immer ohne die volle künstlerische Anerkennung, die ihm, wie er meinte, gebührte: als Repräsentant einer «Zukunftsmusik», die er selbst erst geschaffen hat und weiter schuf. Wagner war alles, was Nietzsche gern sein wollte: charismatisch, sinnlich, ein Vollblut-Künstler, selbstbewusst bis zur Egomanie und von ungebrochener Durchsetzungskraft, ein Gesellschaftsmensch außerdem. Es war nicht ungefährlich für den jungen, sensiblen Nietzsche, den leidenschaftlichen Musikrezipienten und Wissenschaftler, wenn man will, wider Willen, hier dieser vereinnahmenden Persönlichkeit zu begegnen, die in mancherlei Hinsicht seine ungelebten Potentiale verkörperte. Und es ging ja auch nicht gut, diese Freundschaft, die hier begann. Zunächst aber stand die Begegnung in sanftem Licht. Nietzsche empfand sie als Bestätigung seiner heimlichen Innenwelt, die in seinem Werdegang keine Befriedigung fand. Eine Stimme rief ihn, schon lange, seit Jahren, die seine enge Welt transzendierte, die Fesseln sprengte und wie ein Sturm sein Leben durchschweifte. Wenn’s doch nur möglich wäre … So aber konnte man dem Gott, den man nicht kannte und der nicht da war, doch noch Altäre bauen und ihn antizipieren – es ist immer der Gott in uns selbst.
Noch einmal eh ich weiter ziehe
Und meine Blicke vorwärts sende,
Heb ich vereinsamt meine Hände
Zu dir empor, zu dem ich fliehe,
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
Daß allezeit
mich seine Stimme wieder riefe.
Darauf erglühet tiefeingeschrieben
Das Wort: Dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
Auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich – und ich fühl’ die Schlingen,
Die mich im Kampf darniederziehn
Und, mag ich fliehn,
Mich doch zu seinem Dienste zwingen.
Ich will dich kennen, Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.
Friedrich Nietzsche, Herbst 1864
Basel/Tribschen, 1869–1873
«Rein ästhetische Rechtfertigung des Lebens»
I n Nietzsches Leipziger Zeit, den Aufenthalt unterbrechend, und zwar noch vor der Begegnung mit Wagner, fiel auch sein Militärdienst, dem er sich keineswegs zu entziehen versuchte, im Gegenteil: Er wollte da gern seine Pflicht tun. Der Pfarrerssohn hatte einige Sympathien fürs Militär, seine Rangordnung und Disziplin, seine schneidigen Repräsentanten. Als er später auf seiner philosophischen Wanderschaft in Italien für einen aktiven deutschen Offizier gehalten wurde, war er recht stolz. Wieviel schmeichelhafter war das doch als das Image eines deutschen Gelehrten! Friedrich Nietzsche wollte immer das sein, was er nicht war: Sohn eines Handelsherrn, nicht eines Pastors, polnischer Adelsspross, nicht Bürger von Naumburg, Künstler, nicht Wissenschaftler, ein Weitgereister und Weltkundiger, polyglott, virtuos, kein Exeget «toter» Sprachen, Flaneur in Paris schließlich, als er mit seinem Freund Erwin Rohde von einem einjährigen Parisaufenthalt träumte – ein Traum, in dem alles zusammenlief, was um 1870 für das mondäne Paris stand: Cancan, Varieté, Literatencafés, la Bohème, Künstlerfeste, Absinthbars, flanierende Philosophen … (Nietzsche im Folies Bergère – ein einigermaßen erheiterndes Bild!) Ein literarischer Feuilletonist hätte er hier vielleicht sein wollen, ein Künstler und Kunstkritiker, scharfzüngig, polemisch und nestbeschmutzend wie seinerzeit Heinrich Heine, «enfant terrible» in Deutschland, der in Paris als Exilant lebte, auf gutem Fuß mit der Halbwelt, höchst pariserisch und höchst irdisch liiert mit einer Schuhverkäuferin, die ihn im Griff hatte, endend in der Matratzengruft schließlich mit der «Franzosenkrankheit», die für Nietzsche offenbar immer schon ein Faszinosum war …
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