Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
methodisch-kritische Philologie in wunderbarer Union mit der Kunst, Kunstsinn und Kunstgeist. Es ist Nietzsches Vision. Mit dieser Vision einer philologischen Morgenröte, vielleicht sogar der Idealvorstellung, wie Wissenschaft und Kunst überhaupt in schöner Einheit die Zukunft bestimmten, zog das Jung-Genie aber zugleich einen Strich unter die Philologie der Vergangenheit, so im Großen und Ganzen zumindest; die satireartigen Eingangspassagen schob er sicher nicht nur dubiosen und halbgebildeten Kritikern zu. Da war etwa das Beispiel Homer und – ein Dauerbrennerthema der klassischen Forschung – die «Homerische Frage» . Der große Dichter der «Ilias» und «Odyssee», von den Alten selbst als «göttlich» betrachtet, wandelte sich im Laufe der Zeit vom Vater der epischen Heroendichtung zum Vater der Dichtkunst überhaupt und zugleich ihrem unerreichbaren Prototyp – ein ästhetisches Urteil, so Nietzsche, normativ und verpflichtend. Die Kernproblematik aus philologischer Sicht im Hinblick auf Überlieferungsfragen musste nun lauten: Wurde im Laufe der Zeit aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person? Lebhafte Diskussionen wurden über die homerischen Dichtungen zu allen Zeiten geführt, besonders aber in jüngerer Zeit unter den deutschen Altphilologen. Die Gedichte Homers, ursprünglich mündlich vermittelt, waren den Unbilden improvisierender, mitunter leider auch vergesslicher Sänger ausgesetzt. Redakteure haben womöglich so mancherlei «Mattes und Störendes» eingefügt, vieles ging schlichtweg verloren und wurde auf fragliche Weise ergänzt. Der Genius «Homer» blieb dennoch in unverminderter Größe bestehen, eventuelle Diversitäten gingen ausschließlich aufs Konto der Überlieferer. Dann dröhnte ein Paukenschlag durch die philologische Welt, als Friedrich August Wolf 1795 die These aufstellte, die «Ilias» und die «Odyssee» seien Gemeinschaftswerke verschiedener Autoren, und Homer, der zu seiner Zeit angeblich noch gar keine Schriftsprache kannte, habe lediglich die Grundlinie der Handlung erdacht; also nichts mehr vom «göttlichen» Dichter. Überhaupt geisterte fortan die Vorstellung durch die Philologie, es handele sich bei den großen epischen Dichtungen um sogenannte «Volksdichtung» und nicht um das Werk genialer Individuen. Nietzsche dazu: «Niemals ist der so unschönen und unphilosophischen Masse etwas Schmeichelhafteres angethan worden als hier, wo man ihr den Kranz des Genie’s auf das kahle Haupt setzte» . Wolfs Theorien, die noch zu Nietzsches Baseler Zeit widerlegt wurden, haben dennoch einen Sturm der Verstörung vor allem ins klassische Weimar gebracht. Diejenigen, die selbst auf originalgenialen Spuren wandelten und in Homer den großen, alten, freilich nie zu erreichenden Vorvater sahen, sträubten sich gegen eine derart desillusionierende Forschung – ach, und wenn schon …! Wer oder was am Ende «Homer» war, man verehrte an diesem Meisterwerk doch immer den Einen, der (Goethe), gleich seinen Helden, zu seiner Unsterblichkeit wie keiner den Kampf mit den Göttern gewagt hat. Auch Nietzsche schließt sich dem an, weil erstens zwischen Volksdichtung und Individualdichtung gar kein Gegensatz sei und es immer eines vermittelnden Einzelindividuums für eine Schöpfung bedürfe und weil schließlich – darauf läuft letztlich der Vortrag hinaus – die Aufarbeitung dieser herrlichen antiken Welt nicht mit ihr selbst in ihrer Originalität zu verwechseln sei. Sie ist ja nur sekundär, ein Vehikel. Aber sie soll es auf kunstvollste Weise sein und so kongenial wie eben möglich und machbar. «Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt, sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein grosses, auch nur Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen […]?» Sie ist keine Muse und keine Grazie, doch eine Götterbotin, und in diesem Sinne hat sie eine sehr große Verpflichtung. Der junge Wissenschaftler, der mit der Kunst und dem Künstlertum eine kreative Union eingehen möchte und darin auch die Morgendämmerung einer zukünftigen philologischen Wissenschaft sieht, will das Erbsenzählen seiner Zunft hinter sich lassen und fordert alle begeisterungsfähigen Menschen auf, mit ihm zu gehen. Am Ende kehrt er noch einen Satz des Seneca um und resümiert: «philosophia facta est quae philologia fuit» , sprich: «Was einmal Philologie war, ist Philosophie
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