Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
unter seinen Männerfreunden eifrig geheiratet wurde, weil er nun eben das Alter hatte, gesundheitlich instabil war, einen Halt brauchte und vielleicht auch ahnte, dass er die Baseler Professur nicht bis zur Alterspension durchhalten würde und infolgedessen eine vermögende Ehefrau vorteilhaft war, machten sich die Wagners gleich mit auf die Suche, und indem Wagner ein Bonmot seines Rivalen Johannes Brahms abwandelte, gab er Nietzsche den Rat: Er solle heiraten oder eine Oper komponieren – das Heiraten allerdings finde er besser. Sonderbar, dachte Wagner zudem, dass Nietzsche seine Abende immer und ausschließlich mit jungen Männern verbrachte … Er, Richard Wagner, fand das sehr merkwürdig. In der Zwischenzeit habe er für den unbeweibten und kränkelnden Philosophen aber ein Palliativ: Jederzeit könne er in seinem Bayreuther Haus einkehren. Ein Zimmer sei da für ihn bereit, die Freunde erwarteten ihn. Niemals habe er, Wagner, in den haltlosen und stürmischen Zeiten seines verlustreichen Lebens dergleichen gehabt, was sie beide ihm freundschaftlich anboten. «Wir können Ihnen etwas sein; warum verschmähen Sie das angelegentlichst?» Das wusste Nietzsche seinerzeit selbst nicht so genau. Cosima hatte Anfang 1875 bei ihm angefragt, ob seine Schwester Elisabeth während einer längeren Reise der Wagners Haushalt und Kinder betreuen könne, was Nietzsche offensichtlich begrüßte und Elisabeth auch. Auf diese Weise sah er sich selbst aus der Pflicht genommen mit der Kontaktpflege, die er immer mehr mied, und seine rührige Schwester hatte ihre ganz große Zeit im Hause Wagner. Das Gleichgewicht, aber auch eine gewisse Rangordnung schienen damit wiederhergestellt. Nietzsche litt. Es ist wohl kein Zufall, dass seine Krankheiten zeitgleich mit seiner Lösung von Wagner ausbrachen. Er würde den Meister auch später noch, Jahre nach dem Bruch, als den großen «Wohltäter» seines Lebens bezeichnen, als sein größtes Erlebnis und als den ihm bei weitem verwandtesten Mann. Wagner führte ihn – und was ist «Wohltat» sonst? – zu sich selbst. Sein Kommentar: «Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns» gipfelt in der Berufung auf eine Sternenfreundschaft und Erdenfeindschaft. 1876, im Jahr der ersten Bayreuther Festspiele, verfasste er zwar noch einen «Mahnruf an die Deutschen», in welchem er Wagners Œuvre als die erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst charakterisierte, gleichsam als Neuentdeckung der Kunst. Doch aus Bayreuth flüchtete er bereits vor der ersten Generalprobe in den Bayerischen Wald. Auf Bitten Elisabeths kam er dann wieder, sah sich das «Rheingold» an, aber nicht mehr den restlichen «Ring». «Ich sehne mich weg» , hatte er bereits vor der Flucht in den Bayerischen Wald Elisabeth gegenüber geäußert. «Mir graut vor jedem dieser langen Kunstabende … Ich habe es ganz satt.»
Zwar hat Nietzsche Wagners Rat nicht befolgt und weder geheiratet noch eine Oper geschrieben – die teuflisch schwer aufzuführen sein wäre, wie Wagner hinzufügte –, aber das Komponieren blieb ein Teil seines Lebens. Einem (nicht erhaltenen) «Hymnus auf die Einsamkeit», den er 1875, wie Elisabeth aus der Zeit des gemeinsamen Haushalts berichtet, oft stundenlang auf dem Klavier spielte, folgte nur wenig später ein «Hymnus auf die Freundschaft» (ebenfalls nicht erhalten). Seine schlimmsten Krankheitsausbrüche traten oft dann auf, wenn Freunde abreisten, die ein paar Tage oder auch Wochen in seine Welt eingetaucht waren – so im April 1876 ein 30stündiger Migräneanfall mit Gallebrechen nach der Abreise von Heinrich Romundt aus gemeinsamen Leipziger Tagen. Romundt machte Nietzsche mit Paul Rée bekannt, der ein wichtiger Anreger und Weggenosse seiner Loslösung und neuen Werkphase wurde. Der wohlhabende jüdische Kaufmannssohn hatte sehr umfangreiche und universale Studien betrieben – von der von den Eltern erwarteten Jurisprudenz über Chemie, Helmholtz’ Physiologische Optik, Anatomie, Ethnologie bis hin zu klassischer Ästhetik. Seine Dissertation schrieb er über den Begriff des Schönen (= sittlich Guten) in der Moralphilosophie des Aristoteles. Die englischen und französischen Moralisten, die er eifrig studiert hatte, dienten als Vorbild für seine Aphorismensammlung «Psychologische Beobachtungen», gefolgt von seiner Schrift «Der Ursprung der moralischen Empfindungen». Das war das Bindeglied für seine Freundschaft mit Nietzsche. Das Problem der Moral, ihrer
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