Friesengold (German Edition)
sechzig schätzte. Sein graues Haar war voll und nach hinten gekämmt. Seine stahlblauen Augen erinnerten
entfernt an Hans Albers, ebenso seine Statur und seine Bewegungen.
Ein Monokel, das Greven gefallen hätte, fehlte. Dafür trug er eine ungewöhnliche bunte Krawatte, die von einer goldenen Krawattennadel gehalten wurde. Nicht nur sein Anzug schien teuer gewesen zu sein, sondern auch sein Hemd und seine schwarzen Schuhe.
»Entschuldigen Sie bitte den kleinen Vorfall. Darf ich mich vorstellen: Folef von und zu Aldenhausen. Der Hausherr.«
»Mona Jenns. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Doch nicht etwa die Künstlerin?«
Monas Gesicht begann zu leuchten, und Greven wusste auch, warum. Sie liebte es nämlich, Künstlerin genannt zu werden, auch wenn sie gegen die Berufsbezeichnung Malerin nichts einzuwenden hatte. Und sie liebte es, erkannt und gekannt zu werden. Außerdem war ihr anzusehen, dass ihr der konservativ, aber nicht altbacken gekleidete Aristokrat mitsamt seinem souveränen Auftreten und seiner nicht zu leugnenden Ausstrahlung auf Anhieb gefiel.
»Gerd Greven. Sehr erfreut. Und ich bin tatsächlich von der Polizei.«
»Es ist alles in Ordnung. Ein Missverständnis«, wandte sich der Graf zunächst kurz dem Wachmann zu.
»Sie sind hoffentlich nicht wegen eines Verbrechens hier?«
»Wir sind nur gekommen, um uns das Friesengold anzusehen. Ich war zuletzt als Kind hier, da wurde es mal wieder Zeit. Die Kordel hat es damals allerdings noch nicht gegeben.«
»Da bin ich aber erleichtert«, sagte der Graf. »Ich dachte schon, es hätte etwas mit diesen äußerst unappetitlichen Morden in Aurich zu tun. Aber den Täter scheint man ja inzwischen zu haben, wenn auch nicht mehr lebendig.«
»Darf ich?«, fragte Greven und deutete mit dem Finger auf die Kordel.
»Aber selbstverständlich. Darf ich Ihnen wiederum die einzelnen Stücke vielleicht erklären?«
»Das wäre ausgesprochen nett«, antwortete Mona und stellte sich neben Greven an die Panzerglasscheibe.
Was folgte, war ein unterhaltender und gekonnt gehaltener Vortrag über die Geschichte des Schatzes. Der Graf war ein echter Erzähler, ein Entertainer, der es verstand, seine Zuhörer mitzunehmen und mitzureißen. Mit wenigen Worten skizzierte er das Leben des zu den Karolingern gehörigen Kaisers Karl III., auch bekannt als Karl der Dicke. Weniger trocken malte er die feierliche Übergabe der goldenen Statue an die Friesen aus, der fortan als Friesischer Adler die Friesische Freiheit und die Reichsunmittelbarkeit symbolisieren sollte.
»Das ist natürlich nur eine Legende«, fügte er seinen Ausführungen hinzu. »Historisch belegt ist das ebenso wenig wie die Abenteuer Klaus Störtebekers. Woher der Schatz tatsächlich stammt, ist trotz aller Bemühungen der Forschung unbekannt. Die Münzen, wahrscheinlich als Beigaben gedacht, stammen jedenfalls aus der Zeit Karls des Dicken.«
Folef von und zu Aldenhausen schilderte nun den Strudel der Zeit, in den der Schatz durch die Wirren verschiedener Kriege geraten war. Mehrmals habe der Schatz den Besitzer gewechselt, bevor er von der historischen Bildfläche verschwunden sei. Natürlich habe es immer einmal wieder Hinweise auf den Verbleib des Schatzes gegeben, Behauptungen namenloser Zeugen, die ihn mal in Leeuwarden, dann wieder in Emden gesehen haben wollten.
»Ein niederländischer Gesandter etwa hat nach seiner Rückkehr aus Ostfriesland in Amsterdam berichtet, ihm sei in einer Häuptlingsburg in der Krummhörn ein mit Edelsteinen besetzter goldener Adler gezeigt worden. Das war so um 1320. Gute zweihundert Jahre später will ihn wiederum ein lettischer Arzt am Hof Balthasars von Esens gesehen haben.«
»Kommt mir sehr bekannt vor«, kommentierte Greven. »Mit derartigen Zeugenaussagen habe ich auch bisweilen zu kämpfen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, schmunzelte der Graf. »Aber zurück zum Schatz, der trotz der regelmäßigen Sichtungen verschwunden blieb. Bis am 16. August 1929 zwei Bauarbeiter eine Wand im Ostflügel dieses Schlosses mit Spitzhacken bearbeiteten, um sie abzubrechen. Der beauftragte Architekt hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, den ursprünglichen Zustand eines Flures wiederherzustellen. Als sich der Staub gelegt hatte, bemerkte einer der Arbeiter einen sonderbaren Glanz und schob die soeben entfernten Steine zur Seite. Zum Vorschein kam der Schatz. Ohne Kiste oder Truhe, ohne jeden weiteren Schutz war er während des Dreißigjährigen Kriegs in
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