Friesenherz
machte. Kleine Schollen schwammen in einer rosafarbenen Sahnesoße und sahen so aus, als wären sie ganz persönlich für mich aus dem Leben geschieden. Schollen waren zwar ökologisch überhaupt nicht korrekt, aber in dem Fall beschloss ich, eine Ausnahme zu machen. Wie hatte Lisi das genannt? Zum letzten Abendmahl? Nein, das nun auch wieder nicht: Zur Feier des letzten Abends.
Offensichtlich hielt dieses Programm noch weit mehr Über raschungen für mich bereit als eine Stehdichterin. Und keine dieser Überraschungen hatte mir bisher besonders gut gefallen.
Genauso schwungvoll, wie er gekommen war, schritt der Kell ner an unserem Tisch vorbei und kredenzte die Schollen den beigefarbenen Rentnerpaaren. Dann schritt er zackig zurück in die Küche und kam einen Moment später mit einem Tablett wieder, auf dem einige Terrinen dampften.
»Achtmal die Mungbohnen für die Wellnessgruppe?«, fragte er, und dabei umspielte ein Lächeln seine Lippen, das bestenfalls spöttisch zu nennen war. Oder gar sarkastisch? Er stellte eine trübe, braungrüne Brühe vor mir ab, die entfernt indisch roch.
»Das dient sicher zur Ausleitung«, hörte ich die Frau mit der Delfinkette wispern, aber ehe ich mich alarmiert erkundigen konnte, was sie damit meinte, hatte sich Lisi Schleibinger erhoben und sah sich um, als wollte sie eine Rede halten. Aus ihrer Turm frisur hatten sich einige Strähnen gelöst, und ihr Gesicht sah so aus, als wäre ihr Weinglas nicht zum ersten Mal an diesem Abend leer geworden. Das mit dem Abschiedsschluckerl war ihr offen sichtlich ein Herzensanliegen. Sie stützte sich an der Tischkante ab.
»Wenn ihr alle da seids«, sagte sie, »würd ich euch gern noch einmal vorstellen. Und wenn’s euch recht ist, mach mer das hier nicht so förmlich, sondern wir duzen uns. Schließlich haben wir alle miteinand a intensive Woche vor uns, a Reise zu ganz neuen Erfahrungen.«
Ich musterte Hans-Gerd und Geli Schatz von der Seite. Gelis Gesicht war ausdruckslos, auf Hans-Gerds Zügen machte sich leise Panik breit.
»Für mich ist es jedenfalls a sehr … mei, wie soll ich sagen, a spannende Erfahrung, das ist ja das erste Mal, dass wir diese Woche hier anbieten, für Körper, Seele und Geist. A Woche der Veränderung.« Sie griff nach ihrem halb leeren Rotweinglas und nahm einen tiefen Schluck.
Geli Schatz beugte sich zu mir hinüber und flüsterte verschwö rerisch: »Die Dame hat das Hotel kürzlich geerbt. Hieß früher Pension Krabbenkutter, also ein wirklich gut eingeführter Fami lienbetrieb. Aber es musste ja unbedingt ein Sanskrit-Wort sein und ein neues Konzept. Früher hat das ihrem Onkel gehört. Krabbenexporteur im großen Stil, leider kinderlos. Das heißt, nicht ganz. Der Sohn … also, eine ganz tragische Geschichte.«
»Woher wissen Sie, ich meine, woher weißt du das alles?«
»Die Kellnerin, vorhin, beim Kaffeetrinken in der Pesel-Bar. Ganz eine nette Stube, gleich vorne bei der Rezeption um die Ecke. Die Kellnerin hat auch erzählt …«
Ich sollte nie erfahren, was die Kellnerin erzählt hatte, denn Geli und mich traf ein strafender Blick von Lisi Schleibinger, der mir sehr bekannt vorkam. Genauso sah ich meine Siebtklässler an, wenn sie versuchten, unter dem Tisch Handynachrichten zu verschicken. Geli fuhr schuldbewusst zusammen, ich nickte Lisi Schleibinger kollegial zu, aber sie zuckte nicht mit der Wimper. Dann zog sie an ihrem Kleid, und ich dachte, dass sie in einem Dirndl eine richtig gute Figur gemacht hätte. Obwohl sie mit Sicherheit schon über fünfzig war.
»Wisst’s ihr«, fuhr sie fort, »ich denke, gerade dieser Platz hier, die Nordseeküste, ist wie geschaffen für unsere gemeinsame Erfahrung. Des is a richtiger Kraftplatz, wenn ihr versteht’s, was i mein.«
Der Mann mit dem grauen Pferdeschwanz nickte heftig.
»Weil«, Lisi Schleibinger zupfte ungeniert an ihrem Ausschnitt, »weil er so sinnlich erfahrbar macht, dass das Leben a ständiger Wandel ist, versteht’s? Ebbe und Flut natürlich. Aber auch, dass an einem Teil der Küste Sand angespült wird, dass neues Land entsteht und an einem anderen Teil verschwindet. Nix ist ewig, nur der Wechsel selber …«
»Da gibt es gute Gegenmaßnahmen«, mischte sich der Mann im Mischgewebejackett ein, »schließlich haben wir einen funktionierenden Küstenschutz und den Aktionsplan 2020. Allerdings, der Kasus knaxus ist …«
»Mei, des hätt ich jetzt beinahe vergessen.« Lisi Schleibinger strahlte ihn warmherzig an. »Ich
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