Friesenherz
gewesen.
Die kam erst jetzt.
Ich blieb stehen. Torge stapfte ungerührt weiter. Meine Hand rutschte am feuchten Stoff seiner Outdoorjacke ab.
»Jetzt warte doch mal!«
»Keine Zeit, Maike. Ich muss los.«
Plötzlich hätte ich alles darum gegeben, dass er mich bei unserem privatesten Kosenamen nannte. Mommelchen, Momske, jede Variante wäre mir recht gewesen.
»Weißt du was«, keuchte ich ihm ins Ohr, »ich komm einfach mit dir! Jetzt sofort!«
Nun blieb er doch stehen und blickte mich verwundert an.
»Und dein Gepäck?«
»Ist doch völlig egal!«, rief ich und spürte, wie sich Adrenalin in meinem ganzen Körper verteilte, bis zu den Fingerspitzen und in die Ohrläppchen. »Wenn du mich brauchst … Wir gehören doch zusammen!« Einen Augenblick lang fühlte ich mich wieder wie vierundzwanzig, fühlte mich beinahe wie in dem Moment, als mein heimlicher Schwarm mich am Telefon fragte, ob ich eine Wohnung in Sevilla mit ihm teilen wolle. Dieser kurze, süße, schwerelose Augenblick, ehe ich wieder auf dem Boden der Tat sachen aufschlug.
Nur, dass diesmal Torge nicht der Mann war, der mich zurückhielt in einem überschaubaren, etwas faden Leben voller Pflichtgefühl. Sondern dass Torge der Fremde war, der Unbekannte. Ein Kerl mit hippem Bart, der durch Underground-Bars und Galerien zog und Künstlerinnen abschleppte.
Heiße Bilder schwappten plötzlich in meinem Hirn herum. Wer hatte je das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Sex in Flughafentoiletten besonders aufregend war? Derjenige hatte es jedenfalls nie im Klo einer Nordseefähre versucht, auf schwankendem Kunststoffboden, mit Blick auf Rentnerinnenfüße in Gesundheitsschuhen, die unter der Trennwand der Nachbarkabine hervorlugten. Ja, ich wollte Torge folgen. Einfach alles stehen und liegen lassen. Und ich wusste schon genau, wie unsere Versöhnung aussehen sollte. Es stimmte: Sex konnte das ganze Leben verändern. Auch wenn es nicht das erste Mal mit einem Unbekannten war, sondern das tausendste Mal mit einem Bekannten.
»Maike?«
»Torge?«
Jetzt würde er etwas Schönes sagen. Einen Satz, filmreif, aber auch bodenständig, der unsere Liebe auf den Punkt brachte, bestärkte und gleichzeitig auf eine ganz neue Ebene hob.
Er sah mich mit einem schiefen kleinen Grinsen an und sagte nichts.
Ich wartete. Das Schweigen dauerte mir allmählich etwas lange.
»Es passiert ja auch gar nichts Großartiges mehr hier«, erklärte ich schließlich. »Ich würde nichts verpassen. Höchstens die letzte Verjüngungsmassage, morgen um zehn Uhr dreißig.«
Torge seufzte. Das Schiff tutete.
»Du magst doch eigentlich gar keine Massagen«, sagte er und kratzte sich am Kopf.
»Nee. Aber du.« Ich lächelte zweideutig.
»Weißt du«, sagte er, »das ist alles ein bisschen viel auf einmal. Ich möchte ganz gern noch ein, zwei Tage für mich sein. Fürs Erste.«
Und schon setzte er sich wieder in Bewegung.
Leer und kalt war es am Kai. Zwei einsame Autos standen wartend, während ein paar klapprige Kleinbusse und ein Wohnmobil rumpelnd über die Rampe rollten. Ein Taxi kam uns auf der Gegenfahrbahn entgegen und fuhr an uns vorbei in Richtung Inselhauptstadt. Aus dem leicht geöffneten Fenster drang ein Geruch, der mich an meine Kindheit erinnerte. Erdbeerkaugummi. Torges Atem stand in Wölkchen vor seinem Mund. Hatte ich wirk lich erst vor zwei Tagen unter freiem Himmel halb nackt mit Jan geknutscht?
Jan.
»Du, Torge?«
»Hm?«
»Dieser Wattführer. Jan. Ich hab gar nicht mit ihm geschlafen. Jedenfalls nicht richtig.«
Einen Moment lang starrte Torge blicklos vor sich hin, dann geschah etwas Erstaunliches in seinem Gesicht. Als hätte jemand mit einem Ruck einen Vorhang beiseitegezogen, als hätte ein Kind unter dem Weihnachtsbaum die ersehnte Pirateninsel von Playmobil entdeckt.
»Echt?«, fragte er schließlich mit jungenhaftem Eifer. »Und das sagst du jetzt nicht nur, um mich zu beruhigen?«
Das letzte ankommende Auto hatte die Rampe verlassen. Ein Mann mit einer reflektierenden Schutzweste trat mit großer Geste an die zwei einsamen Autos heran und gab ihnen das Signal zum Vorfahren.
Ich schüttelte hoheitsvoll den Kopf.
»Wenn du es genau wissen willst, ich war nah dran. Aber dann …«
Ich wusste nicht weiter. Was sollte ich auch sagen? Dass Jan sich selbst mit einer unpassenden Bemerkung ins Aus geschossen hatte? Dass ich ihm im letzten Moment auf die Finger geklopft hatte?
Im Grunde stimmte beides. Eine Frau wie Ann, so viel stand fest,
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