Friesenkinder
aus.
»Hallo«, begrüßte er sie zögernd.
»Hallo, Dirk«, sie umarmte ihn zur Begrüßung, wobei er ein Kribbeln in der Bauchgegend spürte.
»Ich hab richtig Hunger«, versuchte er abzulenken und sie hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein. »Dann komm«, sagte sie und zog ihn Richtung Eingang.
Das Restaurant war gut besucht. Thamsen sondierte zunächst, ob eventuell Freunde oder Bekannte in dem Gastraum saßen. Er konnte es nicht erklären, aber irgendwie wäre es ihm unangenehm gewesen, wenn man ihn hier mit Dörte gesehen hätte. Vielleicht, weil er keine Lust auf irgendwelche Sprüche wie ›Wurde ja auch Zeit‹ oder ›Schön, dass du ganz über Iris hinweg bist‹ hatte.
Doch er hatte anscheinend Glück. Keiner der Gäste war ihm bekannt und so ließ er sich von der zierlichen asiatischen Kellnerin zu einem Tisch am Fenster führen.
»Und was hast du heute gemacht?« Dörte lehnte sich ein Stück über den Tisch und wirkte deutlich interessiert an seiner Arbeit und ihm.
Was hatte er gemacht? Nachdem Haie wieder gegangen war, hatte er noch einige Akten gewälzt und sich Notizen gemacht. Anschließend hatte er mit Anne eine Runde Malefiz gespielt, ehe sie zu seiner Mutter zum Kaffee gefahren waren. Zusammen unternahmen sie einen Spaziergang, dann war er mit den Kindern nach Hause gefahren und hatte ihnen ihr Abendbrot vorbereitet.
Aber konnte er ihr das erzählen? Es klang so wenig aufregend.
»Och, nicht viel«, antwortete er deshalb und versuchte, mit einer Gegenfrage von sich abzulenken.
»Ja, also, ich hatte heute Dienst in der Gedenkstätte. Seit dem Mord ist da die Hölle los. Es kommen sogar Leute aus Hamburg oder von noch weiter weg.«
»Tatsächlich?«, fragte Dirk nach, obwohl er es nicht weiter verwunderlich fand, schließlich hatten die Medien überregional über den Mord berichtet, und solche Orte, an denen grausame Verbrechen geschahen, zogen seit eh und je sensationslüsterne Zeitgenossen an. Obwohl in diesem Fall der Fundort nicht einmal der Tatort gewesen war.
Trotzdem wanderten die Leute oft in Scharen zu solchen Unglücksorten und ließen sich bei der Vorstellung des Verbrechens kleine Schauer über den Rücken laufen. In Risum-Lindholm gab es zum Beispiel die sogenannte Mörderbrücke. Dort war in den 50er Jahren die Leiche einer ermordeten Frau gefunden worden. Bis heute nannte man die Brücke über die Lecker Au daher ›Mörderbrüch‹ und es fanden sich immer wieder Neugierige, die diesen Ort besichtigten. Wahrscheinlich verhielt es sich mit dem Fundort von Marlenes bester Freundin Heike in Norderwaygaard ähnlich. Auch sie war vor einigen Jahren einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Er verstand dieses makabre Interesse zwar nicht, denn er war froh, wenn er mal nicht mit Verbrechen und den Abgründen der menschlichen Seele konfrontiert wurde, aber diese Plätze schienen eine Art Faszination auszustrahlen, die es schon immer gegeben hatte. Letztendlich besuchten nicht alle Leute so ein KZ nur im Gedenken an die Opfer.
»Und ist dir etwas Besonderes aufgefallen?« Irgendwie fiel es ihm leichter, sich mit ihr über berufliche Dinge zu unterhalten. Außerdem war seine Frage schließlich berechtigt. Gut möglich, dass der Täter zum Tatort zurückkehrte.
Doch Dörte schüttelte nur ihren Kopf und stöhnte leicht auf. »Mir brummt nur der Schädel ein wenig. Den ganzen Tag dieses Stimmengewirr um einen herum. Und dann kommen die Leute auch noch mit schreienden Babys. Finde ich an solch einem Gedenkort irgendwie unpassend. Und bei dir?«
Durch die Frage wurde klar, sie wollte das Thema wechseln, doch von sich wollte Dirk nichts preisgeben. Daher erzählte er von seinem kaputten Wagen und ereiferte sich über die übertriebenen Preise der Gebrauchtwagenhändler. Er bemerkte nicht einmal, wie Dörte ein Gähnen unterdrückte, als er über die hohen Kosten schimpfte.
17.
»Na endlich, Dirk!«, begrüßte Marlene am Morgen den Freund am Telefon. »Warum hast du dich denn gestern nicht zurückgemeldet?«
Dirk hatte gar nicht bemerkt, dass sein Handy am Abend geklingelt hatte. Erst am Morgen, als er sich aus dem Bett quälte, sah er, dass Marlene gestern mehrere Male versucht hatte, ihn zu erreichen. Sofort war sein schlechtes Gewissen erwacht. Was, wenn mit den Kindern etwas gewesen wäre und er nicht erreichbar war? Aber in seiner Verwirrtheit hatte er gestern sein Handy im Wagen liegen lassen, nachdem Dörte so überraschend an die Scheibe geklopft hatte, und
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