Friesenkinder
Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. »Die Leichenstarre ist noch nicht vollständig ausgeprägt.«
Wer tat nur so etwas? Nach der Todesursache brauchte er gar nicht zu fragen. Für ihn stand fest, dies war das kranke Baby von Miriam Kuipers, für welches nun jede Hilfe zu spät kam. Schließlich war durch die Zeitungen bekannt, dass das Kind ohne medizinische Versorgung nur eine minimale Überlebenschance hatte, wenn es nicht rechtzeitig gefunden wurde.
Der kleine, leblose Körper war direkt vor dem Dokumentenhaus abgelegt worden. Dörte Paulsen hatte das Kind gefunden. Als sie Feierabend gemacht hatte und das Haus verließ, war ihr das Bündel an der Skulptur aufgefallen und sie hatte sofort das Schlimmste vermutet. Diese Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Völlig panisch war sie ins Haus zurückgelaufen und hatte Thamsen angerufen. Der hatte sich sofort auf den Weg gemacht und von unterwegs den Mediziner und die Kollegen von der Spurensicherung angefordert.
Thamsen wandte seinen Blick von der Babyleiche ab und schaute sich um. Es war bereits seit einiger Zeit dunkel und das Haus lag ohnehin etwas abgelegen hinter dem Friedhof in einer Stichstraße. Wahrscheinlich hatte niemand etwas gesehen. Ganz unbemerkt hatte irgendjemand hier die Leiche abgelegt und war wieder verschwunden. Der Täter war unsichtbar geblieben. Ob es wirklich, wie Miriam Kuipers vermutete, jemand aus den Nazikreisen war? Langsam kamen Thamsen diese Hinweise zu offensichtlich vor. Da wollte doch einer bewusst von sich ablenken. Gut, die Neonazis waren ein Problem, das hatten die Schmierereien, die Übergriffe und die Flugblätter bewiesen, aber hatte die Gruppe tatsächlich etwas mit dem Mord an dem Arzt und dem toten Baby zu tun? Oder sollte es nur so aussehen? Immerhin konnte man sich schwer vorstellen, dass das Kind von Miriam Kuipers aus rassistischen Gründen umgebracht worden war. Die Mutter war doch Deutsche, oder?
Er stöhnte leicht bei dem Gedanken an die Mutter. Vermutlich würde er ihr die traurige Botschaft überbringen dürfen. Von den Husumern hatte sich nämlich noch keiner blicken lassen und er befürchtete, dies würde auch nicht passieren, jedenfalls nicht mehr heute Abend. Aber die Angehörigen mussten direkt benachrichtigt werden. Nicht auszudenken, was geschah, wenn sie es durch Zufall durch jemanden im Dorf erfuhren.
Er ging zu Dörte hinüber, die immer noch bleich im Gesicht war, und legte den Arm um sie.
»Hast du denn irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Geräusche? Vielleicht einen Wagen gesehen?«
Sie stand unter Schock und brachte vorerst keinen Ton heraus. Doch je länger man mit einer Befragung wartete, umso verwischter waren die Erinnerungen. Er fasste sie an den Schultern und zwang sie, ihn anzublicken. Der starre Blick löste sich ein wenig und eine Träne rann aus ihrem Augenwinkel. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hat sie wirklich nichts gesehen, dachte er.
»Ich bringe dich jetzt heim«, bestimmte er. »Und wir sprechen später noch einmal.«
Er gab den Kollegen noch ein paar Anweisungen, straffte dann die Schultern und stieg in sein Auto. Er fuhr zunächst Dörte nach Hause, die in diesem Zustand nicht selbst in der Lage war, einen Wagen zu lenken. Dann machte er sich auf den Weg nach Risum.
Es war zwar schon spät, doch Miriam Kuipers war unter Umständen noch wach, sinnierte er. Wer konnte schon schlafen, wenn das eigene Kind vermisst wurde? Vielleicht spürte sie sogar, was geschehen war. Schließlich gab es eine ganz besondere Verbindung zwischen Kindern und Eltern und Frauen hatten manchmal eine außergewöhnliche Intuition.
Langsam fuhr er die Dorfstraße entlang. In Gedanken legte er sich ein paar tröstende Sätze zurecht. Doch was war in solch einer Situation schon tröstlich? Er hatte ohnehin Schwierigkeiten, solche schlimmen Nachrichten zu überbringen. Aber es gehörte nun einmal zu seinem Job. Das waren die weniger schönen Seiten seines Berufes.
Er parkte den Wagen am Straßenrand und lief den kleinen Weg zum Eingang hinauf. Das Haus der Kuipers lag etwas abseits auf einer alten Warft. Noch ehe er den Klingelknopf gedrückt hatte, wurde die Tür geöffnet. Das verstärkte seine Vermutung, Miriam Kuipers spürte im Unterbewusstsein, dass ihr Sohn tot war. Nur die Bestätigung brauchte es noch, und die brachte er.
»Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen.« Sie nickte und im Hintergrund sah er plötzlich eine ältere Frau in den Flur treten. »Wir haben
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