Friesenkinder
Schließlich war es für sie nicht leicht gewesen, als er sich von Iris getrennt hatte und ihr die Kinder aufgrund ihrer Alkoholkrankheit hatte wegnehmen lassen müssen. Besonders Anne, die damals noch recht klein gewesen war, hatte sehr gelitten. Doch mittlerweile waren sie ein eingespieltes Team und die Kinder schienen mit der Situation mehr als gut zurechtzukommen.
Sie saßen gerade am Tisch und Thamsen verteilte die Hacksoße, als sein Handy klingelte.
»Oh, nee«, stöhnte Anne, denn für gewöhnlich bedeutete das nichts Gutes. Und sie sollte recht behalten.
»Wo bist du jetzt?«, fragte Thamsen, kurz nachdem er das Gespräch entgegengenommen hatte.
»Gut, ich komme gleich.«
»Stell dir mal vor, was Helene über das Kind von Miriam gesagt hat.« Marlene war immer noch ganz entrüstet über die derbe Ausdrucksweise der Ladenbesitzerin.
»Die ist halt noch eine vom alten Schlag«, kommentierte Haie das Gerede der Frau. Wobei er vermutete, dass auch Neid eine Rolle spielte. Natürlich gab es etliche Leute im Dorf, die Neuem gegenüber nicht allzu aufgeschlossen waren. Aber wo gab es die nicht?
Es war vorstellbar, dass Helene sich zu ihrer Zeit solch eine Möglichkeit gewünscht hätte, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Die Frau war immerhin kinderlos, und auch wenn sie stets den Laden vorgeschoben hatte, vielleicht hatte sie auch einfach keine Kinder bekommen können?
Doch eigentlich war es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Viel interessanter fand Haie die Frage, ob Miriam etwas mit den Neonazis zu tun gehabt hatte.
»Wer ist denn eigentlich der Vater von dem verschwundenen Baby?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, antwortete Marlene und bürstete weiter die Champions. Sie hatte Zutaten für eine Pilzpfanne gekauft und beschäftigte sich mit dem Gemüse, während Haie das Fleisch vorbereitete.
»Aber einen Freund oder so hat sie, glaube ich, nicht, oder?«
Haie überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Nee, hab die eigentlich noch nie mit ’nem Kerl gesehen.«
»Dann ist der Spender bestimmt anonym.«
»Anonym?« Haie verstand nicht. Rein biologisch musste es doch einen Vater geben.
»Na, wenn du von der Samenbank eine Spende nimmst, bleibt der Spender anonym. Ansonsten würde ja keiner mehr spenden, wenn du plötzlich zig Kinder hättest. Nachher musst du noch für die alle Unterhalt zahlen.«
»Aber kann man sich denn da eine bestimmte Spende aussuchen?« Haie hatte sich noch nie mit dem Thema beschäftigt.
»Nee, das geht, glaube ich, nicht. Hätte ja sonst auch etwas mit Selektion zu tun. Bitte nur Spenden von Männern mit einem IQ über 120 ? Das ist wahrscheinlich verboten!«
»Aber warum adoptieren die Leute dann nicht einfach ein Kind? Da gibt es doch wirklich viele, die ohne Eltern aufwachsen.«
»Stimmt schon.« Trotzdem wusste Marlene nach ihrer eigenen Schwangerschaft, welch ein unglaubliches Gefühl es war, ein Kind auszutragen und zur Welt zu bringen. Und ein Teil des Kindes war trotz Samenspende dennoch von der Mutter. Außerdem dürfte es für eine alleinstehende Frau so gut wie unmöglich sein, ein Kind zu adoptieren. Obwohl es für künstliche Befruchtungen sicherlich auch Regelungen gab, die den Familienstand betrafen, überlegte sie. Tom kam gerade rechtzeitig zum Essen. Haie deckte den Tisch und er ließ sich einfach auf die Eckbank fallen.
»Puh, also jeden Tag nach Sylt pendeln möchte ich nicht!«, stöhnte er. Dabei waren die Züge jetzt im Herbst nicht mehr ganz so voll wie zur Hochsaison, wenn neben den Pendlern auch noch Hunderte von Touristen auf die Insel strömten.
»Warst du denn erfolgreich?«, fragte Marlene und gab ihm einen Kuss.
»Eigentlich schon, aber natürlich wurde auch auf der Insel erst einmal endlos über den Mord und die Probleme mit den Neonazis spekuliert.«
»Na ja, die Medien berichten ja auch ausführlich!«, mischte Haie sich ein. »Hat Dirk vorhin eigentlich etwas erzählt? Er wollte doch den Typen mal auf den Zahn fühlen.«
»Nee, aber ich habe auch nicht gefragt. Der hat momentan echt genug um die Ohren!«
19.
Thamsen traute seinen Augen kaum. Fassungslos blickte er auf den winzigen Körper hinab, der im Scheinwerferlicht irgendwie unwirklich wirkte. Beinahe wie aus Wachs. Wie eine dieser Puppen, mit denen Anne noch bis vor Kurzem gespielt hatte.
»Also lang ist er noch nicht tot.« Der Arzt, der in der sich in der Hocke über den Leichnam gebeugt hatte, erhob sich langsam. Auch ihm stand die
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