Friesenkinder
Stelle überflüssig, er legte noch einmal seine Hand auf Frau Völlers Schulter und hoffte, dass sie sein Mitgefühl spüren konnte. Sie tat ihm aufrichtig leid. Julia Völler war nun schon die zweite Mutter, die er innerhalb kurzer Zeit kennenlernte, die ihr Kind verloren hatte, wenngleich auch unter anderen Umständen
»Wann war das denn?«
»Vor etwa zwei Monaten.« Die Mutter machte ihm ein Zeichen, ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Dort bot sie ihm an, auf einem schwarzen Kunstledersofa Platz zu nehmen.
»Ich weiß nicht genau, wie viel sie tatsächlich mitkriegt«, erklärte sie, warum sie lieber den Raum gewechselt hatte. Er nickte. Psychische Erkrankungen ließen sich selbst von Spezialisten schwer einschätzen und wer konnte daher sagen, wie sehr es Julia Völler vielleicht belastete, wenn man in ihrer Gegenwart über das tot geborene Baby sprach und damit den Auslöser ihrer Erkrankung wieder und wieder aktivierte.
»Ein Gutes hat es ja«, stöhnte die rundliche Frau, als sie sich in den Sessel gegenüber fallen ließ. »Diese Typen lassen sich hier nicht mehr blicken.«
»Was für Typen?«
»Na, die Kerle, von denen einer meine Tochter geschwängert hat.« Thamsen runzelte fragend die Stirn.
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ich es sage. Eine Zeit lang hat Julia mit so einer Gruppe junger Männer herumgehangen. Und plötzlich war sie schwanger.« Die Frau seufzte leise, ehe sie fortfuhr.
»Ich war ja dagegen, dass sie das Kind behalten wollte. War selbst jung, als ich das erste Mal schwanger war, und weiß, damit verbaut man sich echt alles. Der Mann hat mich damals sitzen lassen und es war schwer genug, einen zu finden, der mich mit dem Kind genommen hat.« Sie holte bei den Erinnerungen an diese schwere Zeit tief Luft.
»Aber Julia wollte unbedingt das Kind kriegen. Gut, zumindest der angebliche Vater hat sich gekümmert. Obwohl ich den ja nicht leiden konnte.«
»Warum nicht?«
»War so ein Glatzkopf. Sie wissen schon.«
Sie blickte ihn an und er nickte. Das bestätigte seine Vermutung, auch diese von Dr. Merizadi behandelte Frau hatte mit den Rechten zu tun gehabt.
»Eigentlich lief alles gut. Julia war jung und gesund. Und in den letzten Tagen vor der Geburt war dann dieser Typ auch immer hier.«
»Hat der auch einen Namen?«
»Ole.«
»Ole Lenhardt?«
»Mmh.« Die Frau nickte. »Und wenn er nicht kam, war da ein anderer Typ. Michael, glaube ich, hieß der.«
»Waren die denn auch bei der Geburt dabei?«
Wieder nickte die Frau.
»Julia hat ja bei diesem Dr. Merizadi entbunden. Und da muss dann was schiefgelaufen sein.«
»Schiefgelaufen?«
»Jedenfalls ist sie ohne das Baby nach Hause gekommen. Dieser Ole hat erzählt, es hätte Komplikationen gegeben und das Kind sei tot. Seitdem habe ich ihn hier nicht mehr gesehen.«
Thamsen musste unwillkürlich den Kopf schütteln. Das war ja kaum zu fassen. Erst wich Ole Lenhardt Julia anscheinend keinen Millimeter von der Seite und dann ließ er sie nach der Totgeburt einfach hier hocken? Und was war eigentlich mit dieser anderen Frau? Die schien doch die Freundin von Ole Lenhardt zu sein und war auch hochschwanger.
Frau Völler war dann mit der Tochter zu einem anderen Arzt gefahren. Der hatte die Entbindung bestätigt und Julia medizinisch versorgt. Kurzzeitig war sie in einer Klinik gewesen, aber gegen diese Depressionen war man machtlos. Und Julia sprach seitdem kein Wort.
Tom stoppte den Wagen vor dem Schulgebäude. Seit dem Wiederaufbau nach dem Brand vor drei Jahren hatte sich der Komplex baulich stark verändert und nicht alles war zum Vorteil. Vor allem hatte die alte Grundschule etwas von ihrem Charme eingebüßt und wenn Haie in gut drei Jahren in Rente ging, würde hier sowieso nichts mehr so sein, wie es war.
Haie war die gute Seele der Schule, kümmerte sich um alles und jeden. Als Tom ihn nun nach Schulschluss abholte, sah er, wie Haie gerade einem kleinen Mädchen mit einem riesigen Tornister auf dem Rücken auf das viel zu große Fahrrad half und es anschob.
Marlene, die mit Niklas auf der Rückbank saß, beobachtete ebenfalls den Freund. »Bestimmt Erbstücke von der großen Schwester«, vermutete sie laut beim Anblick der viel zu großen Sachen, die die Kleine trug.
»Hat alles sein Gutes, wenn man mehrere Kinder hat«, grinste Tom sie im Rückspiegel an. »Da braucht man einige Anschaffungen nur einmal zu tätigen.«
Sie waren beide Einzelkinder und hatten sich immer Geschwister gewünscht. Für sie war klar, dass
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