Friesenkinder
Meter zur Aussichtsplattform des 108 Meter hohen Fernmeldeturmes Bredtstedts, der auf dem Stollberg stand, hinaufstieg.
Warum Dr. Prust ausgerechnet diesen Treffpunkt gewählt hatte, war ihm zwar nach wie vor ein Rätsel, aber momentan zerbrach er sich eher den Kopf über die ominösen Vorgänge rund um die Patientinnen von Dr. Merizadi. Zwei von ihnen schienen spurlos verschwunden, einer dritten wollte man das Kind entwenden und die Totgeburt von Julia Völler war natürlich auch seltsam, insbesondere in diesem Zusammenhang.
Vielleicht war das Kind gar nicht tot?, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Was aber war dann mit ihm passiert? Hatten es Ole und seine Helfer auch geholt, ebenso, wie sie es bei Sonja Andersen vorgehabt hatten?
Was aber geschah dann mit den Kindern? Er bog von der Bundesstraße ab, während er immer noch über die Fälle grübelte. Vielleicht würde dieses Treffen mehr Licht in die Sache bringen, ansonsten musste er da noch mal nachhaken. Dass da etwas nicht stimmte, war ja nur zu offensichtlich.
Er parkte den Wagen neben einem grünen Mercedes und hielt nach Dr. Prust Ausschau. Ganz bestimmt war er doch schon da, wem sollte sonst dieses Fahrzeug gehören? Um diese Zeit verschlug es kaum jemanden hierher. Vielleicht war das der Grund, warum der Mediziner diesen Treffpunkt gewählt hatte.
Thamsen stieg aus und lief ein Stück Richtung Fernmeldeturm , an dessen Fuß er in der Dämmerung eine dunkle Gestalt sah, die sich umdrehte, als er näherkam. Es war Dr. Prust.
»Gut, dass Sie gekommen sind«, flüsterte er heiser, und der Ausdruck in seinen Augen verriet Thamsen sofort die Angst, die den Mann beherrschte. Er kannte dieses nervöse Zucken nur zu gut, daher kam er ohne Umschweife zur Sache.
»Was ist passiert?«
Der Mann blickte sich in sämtliche Richtungen um, ehe er sprach. »Wir sind überfallen und bedroht worden.«
»Wir?« Thamsen wusste nicht, worauf sich diese Formulierung bezog. Hatte es einen derartigen Vorfall in der Praxis gegeben?
»Nesrim und ich.«
»Von wem?« Eigentlich eine überflüssige Frage, denn zu 99 Prozent glaubte Thamsen, die Antwort zu kennen.
»Von diesen Glatzköpfen natürlich.«
Der Kommissar nickte. Sie wurden also nervös, wie es aussah.
»Und was haben sie gewollt?«
Dr. Prust schilderte den Überfall. »Ich bin mir sicher, es war nicht das erste Mal, dass die Typen da waren. Farhaad ist mit Sicherheit von denen erpresst worden. Nur, Nesrim weigert sich, etwas zu sagen.«
Thamsen konnte die Angst der Frau gut nachvollziehen. Wahrscheinlich hatte ihr Mann sich irgendwann den Drohungen der Neonazis widersetzt. Nun war er tot. Sie würde sicherlich nicht den gleichen Fehler begehen.
»Aber womit haben sie ihn erpresst? Was haben sie von ihm gewollt?«
Wieder blickte sich der andere in alle Richtungen um, ehe er sprach. »Erinnern Sie sich an die Patientinnen, die ich Ihnen genannt habe?«
Thamsen spürte, wie sich jeder Muskel seines Körpers spannte. Er nickte.
»Es gibt noch mehr Fälle.«
»Und?«
Der andere rückte ganz nah an Thamsen heran und senkte nochmals seine Stimme. »Also wenn Sie mich fragen, haben die sich quasi Kinder züchten lassen.«
Haie machte am nächsten Tag früh Feierabend. Aus dem Sommer, als auf dem Grundstück der Schule viel zu tun gewesen war, hatte er noch etliche Überstunden, die er meist im Herbst abfeierte. Jedenfalls jetzt, da das meiste Laub bereits von den Bäumen war und auch diesbezüglich die Arbeit nachgelassen hatte. Außerdem war er meist so gut organisiert, dass selten etwas liegen blieb. Haie arbeitete nach dem Motto: ›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.‹ Und deshalb schob er nie etwas auf die lange Bank.
Er setzte die Mütze auf, die Marlene für ihn während der Schwangerschaft gestrickt hatte, und schwang sich auf sein Fahrrad. Die ganzen Vorfälle der letzten Zeit ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen und er wollte doch noch einmal mit Lore Jensen sprechen. Schließlich hatte sie in der Praxis gearbeitet, vielleicht war ihr ja noch etwas anderes außer den Besuchen der Rechten aufgefallen.
Er klingelte an der Tür und Lore Jensen war mehr als erfreut, ihn zu sehen. Wahrscheinlich denkt sie, ich komme wegen ihr, schoss es ihm urplötzlich durch den Kopf. Obwohl – so abwegig war das für sie wahrscheinlich gar nicht. Immerhin war Haie mittlerweile gut fünf Jahre geschieden und hatte seitdem bis auf ein, zwei kleinere Techtelmechtel nicht
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