Friesenkinder
geöffnet und einen Blick auf die Frau geworfen, die sich vor Schmerzen auf dem Stuhl krümmte, dann aber den Kopf geschüttelt und gemeint, die Patientin müsse warten, die momentane Behandlung sei dringender.
Lore Jensen hatte sekundenlang auf die wieder geschlossene Tür gestarrt. Was konnte wichtiger sein als ein Notfall? Die Frau hatte ganz offensichtlich Probleme und große Schmerzen.
»Und dann?« Tom fand den Vorfall äußerst interessant.
»Na ja, sie hat dann einen Notarzt gerufen.«
Die Frau hätte zu den Schmerzen auch noch Blutungen bekommen und Lore Jensen hatte nicht mehr gewusst, was sie machen sollte. Daher hatte sie schließlich zum Hörer gegriffen und Hilfe geholt. »Und die haben sich nicht gewundert, dass der Frauenarzt die Patientin nicht behandelt hat?«
»Als der Notarzt dann da war, hat Dr. Merizadi wohl so getan, als habe er den Notruf veranlasst. Die Frau hatte mittlerweile nicht nur viel Blut, sondern auch ihr Kind verloren. Der Doktor hat sie deshalb ins Krankenhaus eingewiesen.«
Tom schüttelte den Kopf. »Und was war mit diesen Neonazis?«
»Also, Lore meint nun doch, dass der Arzt von denen erpresst worden ist.«
»Und das ist Lore erst jetzt eingefallen?« Tom war empört, dass die Reinigungskraft mit solch wichtigen Informationen erst auf erneutes Nachfragen von Haie rausrückte.
»Angeblich, aber wir können froh sein, dass sie überhaupt etwas erzählt hat. Ist ja auch nicht ganz ohne.« Haie musste unweigerlich an seine Begegnung mit den Schlägern denken.
»Aber mit was haben die ihn denn erpresst?« Tom fragte sich, ob es eventuell um die Behandlungskosten gegangen war. »Vielleicht war ein Teil dieser Typen gar nicht versichert und hätte sich eine Behandlung gar nicht leisten können.«
Haie zuckte die Schultern. Worum es bei der Erpressung genau gegangen war, hatte auch Lore Jensen nur vermuten können. Sie war allerdings ebenso wie Tom der Ansicht, es sei um Geld und die Behandlungskosten gegangen.
»Aber wieso haben sie ihn dann umgebracht?« Tom kratzte sich am Kopf.
»Na, vielleicht, weil sie nach diesem Vorfall mit dem Notarzt aufgeflogen sind?«
Thamsen saß an seinem Schreibtisch und ging die Akten durch, die ihm Dr. Prust aufgrund einer richterlichen Anweisung übergeben hatte. Als Nichtmediziner fiel es ihm schwer, sich durch die Patientenblätter zu arbeiten. Der Arzt hatte ihm in der Kürze nur das Gröbste erklären können. Er selbst wollte mit dem Fall nichts mehr zu tun haben und daher hatte er seine Hilfe auch nicht weiter angeboten.
Er hatte vor, mit Nesrim Merizadi ein paar Tage zu Freunden nach London zu fliegen. Ihm war die Gefahr, die von den Nazis ausging, zu groß. Er wollte kein Risiko eingehen.
»Die sind zu allem fähig«, hatte er gesagt, und Thamsen hatte der Reise schließlich zugestimmt, wenn er und Frau Merizadi erreichbar blieben.
Ein paar der Akten hatte er nach Husum und zu Dr. Becker in die Gerichtsmedizin nach Kiel gefaxt. Die Kollegen hatten natürlich sofort darauf bestanden, dass er die Patientinnen aufsuchte und befragte.
»Irgendwann wird schon eine reden.«
Doch Thamsen hatte die Besuche erst einmal hintenangestellt. Er fürchtete ohnehin, er würde die meisten der Frauen nicht antreffen. Ihm erschien es wichtiger, noch einmal die Arzthelferinnen zu befragen. Und zwar einzeln. Sie mussten doch mitbekommen haben, was da in der Praxis vor sich gegangen war, wenn der Verdacht von Dr. Prust stimmte.
Er griff nach seiner Jacke und den Schlüsseln für das Poolfahrzeug. So langsam musste er sich wirklich um ein neues Auto kümmern. Vielleicht fand er morgen die Zeit dazu.
Er hatte das Büro beinahe schon verlassen, als sein Telefon klingelte. Bestimmt Haie, dachte er und kehrte noch einmal um. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, denn der Freund hatte mehrmals versucht, ihn zu erreichen, aber er hatte noch nicht die Zeit gefunden, ihn zurückzurufen.
»Thamsen?«
»Ja, ich bin’s, Dörte.«
Hektisch begann er zu grübeln, hatte er gesagt, dass er sich heute melden würde?
»Ich wollte fragen, was du heute Abend machst.«
»Ich weiß noch nicht.«
»Wollen wir uns treffen?«
Wollte er sie sehen? In den letzten Tagen und Stunden hatte er kaum Zeit gehabt, über sich selbst und seine Gefühle für die Mitarbeiterin der KZ-Gedenkstätte nachzudenken. Was empfand er für sie? Wollte und konnte er mehr Zeit in diese Beziehung investieren? Noch war er unsicher. »Ich weiß noch nicht genau, wann ich Feierabend
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