Friesenrache
hat Barne sich einen Mietwagen genommen. Vielleicht …« Haie redete sich in Rage. Thamsen kostete es einige Mühe, ihn zu bremsen: »Noch steht überhaupt nicht fest, dass der Wagen etwas mit dem Mord zu tun hat.«
Der mysteriöse Tod von Kalli Carstensen hatte sich bis ins ›Nordfriisk Instituut‹ herumgesprochen. Als Marlene das alte Volksschulgebäude betrat, stieß sie mit ihrem Chef zusammen, der sie sogleich nach Neuigkeiten zu dem Fall befragte. Sie vermutete, dass er aus der Zeitung davon erfahren hatte.
»Schrecklich, was hier in Nordfriesland so vor sich geht«, klagte er, als sie ihm berichtete, dass die Polizei von einem Unfall ausging. »So etwas wäre früher nicht möglich gewesen.« Sie nickte, auch wenn sie anderer Meinung war. Mord- und Totschlag hatte es auch schon zu früheren Zeiten in dem Landkreis gegeben. See- und Strandräuber hatten, soweit ihr bekannt war, ihr Unwesen getrieben, und in ihren Kämpfen war es sicherlich so manches Mal brutal und überaus blutig zugegangen.
Ganz zu schweigen von den Kriegen, welche im vorigen Jahrhundert im Land getobt hatten. Streitigkeiten um den Besitz der Herzogtümer, die lange Zeit unter der Herrschaft des dänischen Königs standen, und die damit verbundene Frage der Staatszugehörigkeit hatten einen massiven Widerstand ausgelöst, der im Deutsch-Dänischen Krieg gegipfelt war. Die blutige Schlacht um das von Dänen besetzte Friedrichstadt hatte viele Todesopfer gefordert. So friedlich, wie Nordfriesland sich heutzutage gab, war es also bei Weitem nicht immer gewesen.
Sie schaltete den Computer ein. Bis zur Besprechung blieb ihr noch ein wenig Zeit; sie wollte ein letztes Mal ihre Notizen durchgehen. Zu den Oterbaankins hatte sie bisher kaum Literatur gefunden, deshalb würde sie zunächst stärker auf die Teufelssage eingehen, in der es um angebliche Düwelssporen in der Föhrer Marsch ging. Sie hatte dazu den Text ins Inselfriesische übersetzt, was für sie eine wahre Herausforderung war. Als ihr vor etwas mehr als drei Jahren die Stelle am Institut angeboten wurde, sprach sie so gut wie kein Wort Friesisch. Das war anfänglich auch nicht notwendig, denn ihr erstes Projekt war eine Arbeit über Theodor Storm, und der hatte seine Dichtung in Hochdeutsch verfasst.
Wenig später hatte sie jedoch angefangen, Friesisch zu lernen. Immerhin kämpfte das Institut um den Erhalt der Sprache. Tapfer hatte sie sich durch mehrere Sprachkurse gekämpft, und das kam ihr nun zugute. Mittlerweile verstand und sprach sie es ziemlich gut; deshalb hatte man ihr auch das neue Projekt anvertraut. Nur das Fering bereitete ihr doch hin und wieder Schwierigkeiten.
Sie öffnete einige Dokumente. Irgendwie war sie jedoch nicht ganz bei der Sache. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie schloss die Augen und sah Tom mit verschränkten Armen durch das ›NoldeMuseum‹ schlendern. Seine Laune, welche ohnehin schon nicht die beste gewesen war, hatte sich nach dem ominösen Anruf im absolut negativen Bereich bewegt. Anders konnte sie sein gereiztes Verhalten nicht bezeichnen. Kaum hatten sie die Fähre verlassen, beschwerte er sich über den weiten Fußmarsch zum Parkplatz. Dabei waren es nur wenige Schritte vom Hafen bis zu ihrem Wagen.
Im Museum hatte sich seine Nörgelei dann fortgesetzt. Der Eintritt sei überteuert. Im Ausstellungsraum sei es viel zu kalt. Die Bilder gefielen ihm nicht. Marlene hatte Tom noch nie so erlebt. Sie fragte sich, was mit ihm los war.
»Frau Schumann?« Sie fuhr zusammen. Ihr Vorgesetzter war von ihr unbemerkt neben ihren Schreibtisch getreten. »Wir warten auf Sie.«
Ihr Blick huschte auf dem Bildschirm auf die rechte untere Ecke. Es war bereits Viertel nach elf. Sie erschrak. Über ihre Grübeleien hatte sie die Zeit völlig vergessen. Hastig schob sie ihre Unterlagen zusammen und stand auf.
Als sie den Besprechungsraum betrat, blickten alle Anwesenden verständlicherweise auf sie. Sie spürte plötzlich einen Kloß in ihrem Hals wachsen. Neben ihrem Chef saßen dort auch namhafte Vertreter des ›Nordfriesischen Vereins‹. Normalerweise kannte Marlene keinerlei Hemmungen im Umgang mit den Herren, aber heute wuchs ihr die Situation irgendwie über den Kopf. Mit zitternden Händen legte sie ihre Papiere auf den großen, runden Tisch und schaltete den Overheadprojektor an.
»Also«, sie räusperte sich, »was bisher schriftlich niedergelegt war zu …«
Sie drehte sich unsicher zu
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