Friesenrache
Dirk, hier ist Herr Carstensen«, sein Kollege führte den jungen Mann in sein Büro. Der sah ähnlich bekümmert wie am Vortag aus, hatte allerdings zwischenzeitlich zumindest die Kleidung gewechselt. Nachdem der verwaiste Bauernsohn gestern immer wieder beteuert hatte, weder mit dem Mord an seinem Vater noch mit dem Tod seiner Mutter etwas zu tun zu haben, war er gezwungen gewesen, Ulf Carstensen laufen zu lassen. Es bestand aus Dirk Thamsens Sicht keinerlei Fluchtgefahr, die eine Festnahme gerechtfertigt hätte. Allerdings hatte er ihn für den heutigen Vormittag in die Dienststelle bestellt. Die Kollegen sollten seine Fingerabdrücke abnehmen und eine DNA-Probe sicherstellen. Dem Sohn des toten Landwirts hatte er gesagt, sie bräuchten die Merkmale, um die Spuren am Tatort eindeutig zuweisen zu können. Tatsächlich versprach er sich von den Proben weitere Hinweise, eventuell sogar übereinstimmende Ergebnisse, um den Verdächtigen überführen zu können. Er war sich zwar nicht sicher, ob der Sohn in einem direkten Zusammenhang mit dem Mord oder dem vermeintlichen Suizid stand, aber nach dem Geständnis Sophie Carstensens, welches momentan auf seine Echtheit hin überprüft wurde, zog er die Möglichkeit durchaus in Betracht. Nicht unbedingt in Bezug auf den Selbstmord, aber zumindest im Hinblick auf den ermordeten Kalli Carstensen. Immerhin hatte wahrscheinlich auch die Mutter, wenn sich herausstellte, dass der Brief der Toten nicht gefälscht war, den Sohn für den Mörder ihres Ehemannes gehalten.
Er wies wortlos auf einen der Holzstühle vor seinem Schreibtisch, und der junge Mann setzte sich.
»Hier ist übrigens auch der Obduktionsbericht. Gerade eben eingetroffen.« Der Kollege reichte ihm eine graue Mappe, ehe er sich diskret zurückzog.
Thamsen schlug die Akte auf. Der Gerichtsmediziner hatte keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung entdecken können, ein Mord schied deshalb seiner Ansicht nach aus. Sophie Carstensen hatte sich das Leben genommen. Allerdings hatte die Untersuchung der Leiche andere interessante Befunde zum Vorschein gebracht.
»Sagen Sie Herr Carstensen«, er blickte den Verdächtigen über den Rand der grauen Mappe hinweg an, »hatte Ihre Mutter mal einen Unfall? Oder Verletzungen, die nicht anständig behandelt worden sind?«
Ulf Carstensen, der auf dem unbequemen Holzstuhl leicht zusammengesackt war, richtete sich unvermittelt kerzengerade auf.
»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete er.
»Hm«, kommentierte Thamsen die Antwort seines Gegenübers und kratzte sich dabei an seinem linken Ohr. Er warf erneut einen Blick auf die Akte.
»Ist sie vielleicht gestürzt?«
»Vor ungefähr zwei Wochen. Mit dem Fahrrad.«
»Und davor?«
Er spürte, wie Ulf Carstensen unruhig wurde. Die Beine des antiquierten Stuhls knarrten mächtig unter seinem nervösen Hin-und-her-Rutschen.
»Ich glaube, sie ist mal die Treppe im Stall hinuntergefallen. Das muss aber schon Jahre her sein.«
Treppensturz, Fahrradunfall – alles Ausreden, die seine Mutter wahrscheinlich sogar selbst benutzt hatte. Ausflüchte, um die wahren Ursachen ihrer Verletzungen, Knochenbrüche und Narben zu verschleiern.
Der Rechtsmediziner ging nach den Ergebnissen der Obduktion davon aus, dass Sophie Carstensen seit Jahren misshandelt worden war. Schlecht verheilte Frakturen, Brandnarben und Hautabschürfungen ließen auf extreme körperliche Gewalteinwirkungen schließen. Über den oder die Verursacher konnte die Untersuchung der Leiche natürlich keine Ergebnisse liefern, nur, dass der Täter von kräftiger Statur gewesen sein musste. Ansonsten wäre er rein körperlich kaum in der Lage gewesen, der Verstorbenen Verletzungen solchen Ausmaßes zuzufügen.
Und mit Sicherheit, mutmaßte Thamsen, hatte Ulf Carstensen von den Misshandlungen gewusst. Die Blessuren hatte die Mutter nicht ständig vor ihm geheim halten können. Zumindest bei den Knochenbrüchen musste sie über mehrere Monate hinweg geradezu außer Gefecht gesetzt gewesen sein. Und dass der Sohn sich niemals gefragt hatte, warum seine Mutter humpelte oder woher die blauen Flecken an ihren Armen und Beinen stammten, glaubte er ihm nicht.
»Ihre Mutter ist misshandelt worden.« Er stellte keine Frage, sondern äußerte den Umstand gleich als Feststellung. »Und ich vermute, dass Ihr Vater dafür verantwortlich war.«
Auf seine Bemerkung hin verstummte plötzlich das Knarren des Stuhls. Ulf Carstensen saß
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