Friesenrache
wie angewurzelt vor ihm und starrte ihn an. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass die Obduktion diesen Umstand ans Licht bringen würde. Obwohl die letzten Misshandlungen erst wenige Tage zurücklagen, deren Folgen Sophie Carstensen selbst mit einem Fahrradsturz begründet hatte.
»Ihre Mutter hatte keinen Unfall, stimmt's?«
Thamsen blickte sein Gegenüber an. Er vermutete, das Gehirn hinter der blassen Stirn arbeitete auf Hochtouren, um eine plausible Ausrede zu finden. Doch die gab es nun einmal nicht, und so musste Ulf Carstensen schließlich eingestehen, dass seine Mutter jahrelang misshandelt worden war.
Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann sein Vater angefangen hatte, sie zu schlagen. Streit war zwischen seinen Eltern eigentlich an der Tagesordnung gewesen, aber irgendwann war Kalli Carstensen das erste Mal die Hand ausgerutscht. Anfänglich kam es nur hin und wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, meist wenn sein Vater zu viel getrunken hatte, aber schon bald verkürzten sich die Abstände zwischen den körperlichen Tätlichkeiten. Seine Mutter hatte immer wieder versucht, die blauen Flecken und blutigen Schrammen vor ihm zu verheimlichen oder eine Ausrede für die Verletzungen zu finden. Mal war es die Kellertreppe, die sie angeblich hinuntergestürzt war, oder irgendein Möbelstück, das sie übersehen und deshalb daran gestoßen war. Doch er hatte gewusst, dass das alles nur Ausflüchte und der wahre Grund für ihren geschundenen Körper die Schläge seines Vaters waren.
»Und Sie haben tatenlos zugesehen?« Thamsen konnte nicht nachvollziehen, dass der Sohn seiner Mutter nicht geholfen hatte, sich nicht vor sie gestellt, sie beschützt hatte.
»Sie wollte keine Hilfe«, flüsterte Ulf Carstensen.
»Wie bitte?« Akustisch hatte er trotz des Flüstertons sehr wohl die Antwort seines Gegenübers verstanden. Aber begreifen konnte er sie nicht. Hatte Sophie Carstensen wirklich jeglichen Beistand des Sohnes abgelehnt? Und selbst wenn, überlegte er, wäre es nicht trotzdem dessen Pflicht gewesen, der Mutter zu helfen. Immerhin mussten die Misshandlungen ziemlich nah an schwere Körperverletzung gegrenzt haben. Da konnte man doch nicht einfach zusehen oder, besser gesagt, wegsehen. Also wenn sein Vater … Er steigerte sich förmlich in die Vorstellung hinein.
»Aber das kann man doch nicht schlichtweg ignorieren. Sie müssen doch gesehen habe, wie sehr Ihre Mutter …«
»Meinen Sie, mir ist das leichtgefallen? Meinen Sie, ich hätte nicht alles versucht, sie da rauszuholen?« Ulf Carstensen war unvermittelt aufgesprungen. Rote Flecken bildeten sich plötzlich überall in seinem Gesicht und am Hals. Mit wütendem Blick blitzte er ihn an.
Gebeten und gebettelt habe er, sie solle sich von seinem Vater trennen, und als das nichts nützte, hatte er seine Mutter sogar angebrüllt und gedroht, zur Polizei zu gehen. Nicht nur einmal, immer wieder. Jedes Mal, wenn sie mit geschwollenem Gesicht und aufgeplatzten Lippen vor ihm stand, hatte er auf sie eingeredet. Einmal war er bei einem handgreiflichen Streit der Eltern sogar dazwischengegangen, hatte sich schützend vor seine Mutter gestellt und drohend die Hand gegen den Vater erhoben. In dem Moment war er sich wie ein Held vorgekommen. Doch im Endeffekt hatte dies die Sache eher schlimmer gemacht. Nur einen Tag später ließ sein Vater die aufgestaute Wut so gewaltig an seiner Ehefrau aus, dass Ulf Carstensen, als er am Abend heimkam, die Mutter schwer verletzt auf dem Küchenboden liegend vorfand.
»Selbst danach wollte sie ihn nicht anzeigen. Hat ihn sogar noch verteidigt. Es sei alles ihre Schuld und so, hat sie gefaselt. Ich hab das nicht verstanden.«
Der junge Mann, der aufrecht vor Thamsens Schreibtisch stand, setzte sich langsam wieder. Sein Blick wanderte Richtung Fenster und suchte verloren nach einem Halt hinter der gläsernen Scheibe.
Thamsen, der von dem emotionalen Ausbruch gänzlich überrascht war, versuchte sich zu sammeln. Er hatte schon öfters von Frauen gehört, die von ihrem Ehemann verprügelt, vergewaltigt, misshandelt wurden. Nur selten gelang es den Opfern, sich aus der unerträglichen Situation zu befreien. Es schien ein Teufelskreis zu sein, in dem sich Hoffnung und Angst, Hass und Liebe abwechselten. Diese Frauen verfügten meist über keinerlei Selbstwertgefühl, gaben sich oft noch selbst die
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