Friesenrache
Sekunden zuvor an sein Ohr gedrungen waren, nur eingebildet? War Sophie Carstensen tatsächlich der Meinung gewesen, der Sohn habe ihren Ehemann ermordet? Und wenn ja, wie war sie zu dieser Annahme gekommen? Es musste Hinweise gegeben haben, Spuren, die ihm bisher verborgen geblieben waren.
»Wie ist Ihre Mutter zu dieser Auffassung gekommen?«
Ulf Carstensen zuckte mit den Schultern. Fakt sei, äußerte er, sie habe ihn für den Mörder seines Vaters gehalten, warum auch immer. Und um ihn zu schützen, hatte sie die Schuld auf sich genommen. Sie habe ihn sehr geliebt, hatte nicht gewollt, dass er ins Gefängnis kam.
»Aber deswegen hätte sie sich ja nicht gleich umbringen müssen«, kommentierte Thamsen lapidar die Äußerung des anderen. Er war nun viel mehr an der Frage interessiert, ob Sophie Carstensen mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte.
»Und?«, fragte er deshalb auch ganz direkt, »haben Sie Ihren Vater tatsächlich umgebracht?«
16
Marlene nahm die letzte Ausfahrt vor der Bundesgrenze und steuerte den Wagen durch die scharfe Rechtskurve Richtung Harrislee.
Haie hatte sie gestern Abend angerufen und gebeten, möglichst schnell zu kommen. »Wir brauchen dringend deine Unterstützung. Nun ist auch noch Sophie Carstensen tot.«
Sie hatte nicht lange gezögert und ihm versprochen, sich sofort am nächsten Morgen auf den Weg zu machen. Immerhin war Haie ihr Freund. Sie musste ihm einfach helfen, den Mörder seines Schulkollegen zu finden. Der Streit zwischen Tom und ihr hatte schließlich nichts damit zu tun. Außerdem sah sie die Situation zwischenzeitlich ein wenig entspannter. Das Gespräch mit Ari, dem Studenten aus der Universitätsbibliothek, hatte sie nachdenklich gestimmt.
»Bist du dir denn überhaupt sicher, dass das alles stimmt, was diese Monika dir erzählt hat? Was hat dein Freund denn dazu gesagt?«, hatte er sie gefragt, als sie ihm letztendlich doch von ihren Beziehungsproblemen erzählte.
Auf diese Frage konnte Marlene ihm keine Antwort geben, und sie hatte eingestehen müssen, gar nicht darüber nachgedacht zu haben, warum Monika überhaupt angerufen hatte und ob die Darstellung der damaligen Vorfälle aus Sicht der Exfreundin der Wahrheit entsprach. Außerdem war es Tom gar nicht möglich gewesen, ihr die Angelegenheit zu erklären. Zu schnell war sie geflüchtet.
Nach dem Gespräch mit Ari und einem gewissen Abstand zu der gesamten Situation tat es ihr leid, derart überreagiert zu haben. Trotzdem traute sie sich nicht, Tom anzurufen. Sie hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, und zudem war sie sich unsicher, wie er über ihr Verhalten urteilte. Er musste enttäuscht von ihrer Reaktion gewesen sein. Vielleicht war nun er es, der ihre Beziehung infrage stellte. Ein mulmiges Gefühl begleitete sie auf ihrem Weg Richtung Norden.
Sie kam zügig auf der B199 voran und passierte schon nach gut 20 Minuten das Ortsschild Lecks. Doch anstatt wie ausgeschildert über die B5, wählte sie den Weg durchs Dorf, um anschließend über den sogenannten Schnapsweg nach Risum-Lindholm zu gelangen. Sie liebte die holprige, kurvenreiche Strecke. Außerdem konnte sie bei der Gelegenheit in dem ortsansässigen Bücherladen einen kurzen Zwischenstopp einlegen. Sie wollte sich erkundigen, ob es dort Bücher zum Thema Gewalt in der Ehe gab. Unter Umständen lieferte die Literatur auch Informationen über Suizidfälle anlässlich der familiären Verbrechen.
Nachdem Haie ihr gestern von dem Selbstmord Sophie Carstensens berichtet und ihre Vermutung, nämlich dass die Ehefrau von Kalli Carstensen misshandelt worden war, bestätigt hatte, war ihr Interesse an der Thematik noch gewachsen. Sie brauchte jedoch mehr Hintergrundinformationen, um sich besser in die Lage des Opfers versetzen zu können. Bisher hatte sie lediglich zwei Reportagen über Gewalt in der Ehe im Fernsehen verfolgt. Doch das reichte bei Weitem nicht, sich in Sophie Carstensens Situation hineinzudenken. Warum hatte sie ihren Mann nicht verlassen? Hatte sich schlagen, treten, vielleicht sogar vergewaltigen lassen? Marlene hoffte, in entsprechenden Büchern vielleicht eine Antwort zu finden.
Sie parkte am Marktplatz und lief zu dem Buchladen, der sich in einer kleinen Seitenstraße befand. Eine helle Glocke ertönte, als sie die Tür öffnete.
»Moin, Frau Schumann«, grüßte die dralle Buchhändlerin, die vor einem der Regale kniete und Bücher einsortierte. Sie kannte Marlene,
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