Friesenschnee
händischen Aufwand. Offensichtlich war jemand zu bequem gewesen, vor dem Regierungswechsel die Papierakten in der Hängeregistratur zu durchforsten und sie von faulem Schriftgut zu säubern. Nur deswegen halte ich jetzt ein Ergebnis deiner Anfrage in meinen Händen. Willst du es nicht hören?«
Dreesen hatte Stuhrs Besserwisserei wieder einmal bezwungen, denn nur vorsichtig fragte der nach.
»Doch, natürlich. Ein brisanter Vorgang, sagtest du? Dienstunfähigkeit ist doch eher ein schlichter Verwaltungsakt, oder nicht?«
»Normalerweise schon. Wenn ein Beamter auf Grund körperlichen Gebrechens oder wegen der Schwäche der körperlichen und geistigen Kräfte nicht mehr in der Lage ist, seine dienstlichen Pflichten gegenüber seinem Dienstherrn zu erfüllen, dann wird die Dienstunfähigkeit durch ein amtsärztliches Gutachten festgestellt. Da stehen die üblichen Dinge drin. In der Regel Depressionen, Burn-out-Syndrom, Angstzustände, der übliche Psychokram eben. Das hat auch bei dir dringestanden, habe ich alles nachgelesen.«
Stuhr fragte erstaunt nach. »Du bist an meinen Bescheid von damals herangekommen? Einfach so?«
Schnell stellte Dreesen die Verhältnisse klar. »Na ja, genau genommen nicht ich, sondern die verehrte Kollegin Schlenderhahn. Aber der Bescheid selbst sagt nichts aus. Doch dank ihrer Hilfe halte ich jetzt den Brief in den Händen, der vermutlich vor fünf Jahren zur Feststellung deiner Dienstunfähigkeit geführt hat.«
Jetzt erst ging Stuhr die Dimension des Dreesen vorliegenden Schriftstückes auf, denn er war verstummt. Dreesen nutzte die Stille. »Ich trage den Brief jetzt einmal vor. ›Sehr geehrter Herr Kollege Staatssekretär. Heute wende ich mich vertraulich an Sie. Wie Sie sicherlich erfahren haben, sind die Verhandlungen zwischen dem Bund und Ihrem Bundesland wegen des neuen Strukturplanungsabkommens ins Stocken geraten. Das ist umso bedauerlicher, da ich aus alter Verbundenheit zu Schleswig-Holstein bereits Bundesmittel in Höhe von 20 Mio. Euro im Haushalt habe für Sie binden lassen. Schwierigkeiten ergeben sich insbesondere in der Person des Ministerialrates Stuhr, der sich aus prinzipiellen Überlegungen gegen die Vereinbarung sperrt, die wir bei Ihrem letzten Besuch in Bonn gemeinsam in Erwägung gezogen haben und den beiderseitigen Interessen entsprochen hätte. Ich appelliere an Ihre Fairness und bitte Sie, Herrn Stuhr von seinem Verhandlungsmandat zu entbinden, um Ihre Interessen und meinen Mittelabfluss nicht zu gefährden.‹ Unterschrift, Ende. Na, Stuhr, ist das nicht eine Sensation?«
Dreesen wusste nur zu gut, dass das wie eine mittelschwere Bombe einschlagen musste, doch Stuhr wirkte gefasst.
»Nein, so geht das bei Verhandlungen zwischen Bund und Ländern leider oft hinter den Kulissen zu. Du verhandelst und einigst dich, und dann taucht vier Wochen später ein in Bonn verfasstes Protokoll auf, das dir dein eigener Chef um die Ohren knallt. Das muss man bei diesem Ränkespiel schon aushalten können.«
Dreesen konnte sich in der Tat besinnen, dass Stuhr früher oft darüber geklagt hatte. Aber das Gejammer über seine Strapazen bei den Bahnfahrten in veralteten IC-Waggons der zweiten Klasse mit Umsteigen in Hamburg und der anschließenden Rumpelfahrt über die sogenannte Rollbahn in den Ruhrpott überwogen in der Erinnerung an Stuhr am meisten. Dabei beneideten alle anderen in der Staatskanzlei Stuhr um seine schönen Dienstreisen. Jammern auf hohem Niveau, so schallte es von den Damen im Schreibdienst zurück.
Stuhr schien von Dreesens Gedanken glücklicherweise nichts zu ahnen, sondern fragte vorsichtig nach: »Gibt es denn irgendwelche Farbenspiele auf dem Papier?«
Sicher gab es die. »Klar, Stuhr. Der Chef der Kieler Staatskanzlei hat mit roter Tinte den seinerzeit zuständigen Abteilungsleiter um einen Verfahrensvorschlag gebeten, der mit brauner Tinte den Vorgang an die Personalabteilung weitergeleitet hatte. Der zuständige Referatsleiter hat schließlich mit blauer Tinte deinen Henkersspruch auf das Papier geschrieben: ›Am einfachsten wäre DU.‹ So ist das hier zu lesen.«
Stuhrs Stimme klang jetzt aufgeregt. »DU, das ist das Kürzel für Dienstunfähigkeit. Steht dort irgendwo eine Antwort von höherer Stelle?«
Die hatte Dreesen schon längst gefunden, wenngleich sie nur unauffällig und kaum leserlich rechts unten zu finden war.
»›Einverstanden‹«, steht dort in brauner Schrift. Der Abteilungsleiter hat also
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