Friesenwut - Kriminalroman
wenige Zentimeter tiefen Wasser laufen. Sie warteten darauf,
dass der Schlick freilag, um die Zeit der Ebbe für ein köstliches Mahl zu
nutzen.
Er schob, zog,
drückte, doch er bekam das Boot nicht frei. Wie festgesogen. Er stemmte seine
Füße in den Sand, sammelte noch einmal alle Kräfte. Dann ein stechender Schmerz
am Fuß, unter dem er das Wasser viel zu schnell ablaufen sah. Er griff nach
unten, zog den Fuß aus dem Schlick. Ein Riss. Blut troff heraus.
Schwertmuschel, verdammte Viecher. Schön anzusehen und gleichzeitig – mit
Billiarden anderer Muscheln – das Klärwerk des Wattenmeers. Aber die
Schalen waren scharf wie Messer. ›Salzwasser reinigt und heilt …‹, dachte
Marten, das hatte seine Oma immer erzählt. Die Wunde brannte, als sie mit dem
Salzwasser in Berührung kam. Er hatte keine Zeit zu verlieren, setzte den Fuß
wieder auf. Er drückte, zog, schob erneut – das Boot drehte sich nach
links, nach rechts, es bewegte sich ein wenig nach hinten – es nutzte
nichts. Und die Ebbe zog ihm das, was er jetzt am dringendsten brauchte,
regelrecht unter dem Hintern weg: Wasser! So schnell es kommen konnte, und
manchem unerfahrenen Wattwanderer schon zum Verhängnis geworden war, so schnell
konnte es ablaufen. Die Bänke vor ihm lagen schon frei, das Nordland erhob sich
aus dem Wattenmeer. Schweißüberströmt hielt er inne und schaute in die Ferne.
Keine Chance, dachte er. Er machte sich Mut: Erstens würde die nächste Flut
ganz sicher kommen und zweitens war er doch weit und breit nicht der Einzige …
Allerdings sah er im Moment keine Segel. Nur die Fähren der Frisia-Reederei,
weit weg. Sie fuhren nach Norderney und Juist, immer genug Wasser unter dem
Kiel, auch wenn es nach Juist an manchen Stellen nur wenige Zentimeter waren.
Innerlich ärgerte er sich über die missliche Situation. Wenn er das Boot nicht
freibekam, würde es angesichts der jetzt im Herbst schon früh hereinbrechenden
Dämmerung kritisch werden. Übernachten war auf diesem Boot nicht vorgesehen, es
hatte ja nicht einmal eine Kajüte. Hätte er nur seine Gedanken
zusammengehalten. Das reichte für 20 Jahre Tratsch. Badewannenkapitän. Er sah
nach unten, immer wieder kam für kurze Augenblicke rot gefärbtes Wasser nach
oben. Marten hob den Fuß erneut an. Immer noch lief das Blut aus seinen Zehen.
Eine Mütze hatte er nicht, die Herbstsonne hatte erstaunliche Kraft. Doch
gleichzeitig bemerkte er, dass die Bewölkung sich verdichtete, es frischte auf.
Er brauchte etwas zu trinken. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er nichts
mitgenommen hatte. Die im Westen aufkommenden dunklen Wolken kamen näher.
Es war noch keine halbe Stunde vergangen und die
Schlechtwetterfront war über Borkum hinweggezogen. Unerbittlich setzte sie
ihren Weg fort und gigantische, grau-schwarze Wolkenberge hatten sich über
Marten und seinem Boot zusammengezogen. Kein Zweifel, er geriet ins Zentrum des
Geschehens. Der Wind nahm zu, es wurde sichtlich kühler. Marten hätte ungefähr
erklären können, was sich wettermäßig gerade abspielte. Es nutzte ihm jetzt
aber gar nichts. Er stand halb auf der Bootskante und halb auf einer der
Sitzbänke und hielt verbissen nach anderen Booten Ausschau. Weit weg sah er die
Fähren hin- und herfahren. Die kannten ihre genaue Position. Sie hatten
hochaktuelle, digitale Seekarten auf dem Bildschirm vor sich, GPS-Empfänger,
Echolot, Radar, alles, was man brauchte für die sichere Seefahrt. Sie konnten
die neuesten Wettermeldungen abrufen und sie hatten das Grundlegendste: Nahrung
und Getränke, vernünftige Kleidung. Er hatte nichts dergleichen.
Marten rechnete aus, wie viel Geld
zusammenkam bei einer einzigen Fährenfahrt, bei den Preisen. Alles Mögliche
ging ihm durch den Kopf – immer wieder auch dieser verdammte Unfall, die
Verdächtigungen der Polizei, und zwischendurch völlig irrelevantes Zeug. Skipper
waren keine mehr unterwegs, nirgends, nicht mal eine der schönen, alten
holländischen Tjalken, die die Wogen durchpflügten, als würden sie gar nicht
bemerken, wenn es Sturm gab. Die hatten wohl alle den Wetterbericht gehört, wie
es jeder verantwortungsvolle Bootsführer tat. Ganz im Gegensatz zu ihm … Er
musste weg. Wenn er nur die Jolle flott bekäme. Die lag, etwas schräg, auf Sand
und wurde vom zunehmenden Wind traktiert. Loslaufen? Nach Memmert? Wenn der
Vogt auf der Insel war, könnte er Hilfe holen. Er hatte keine Ahnung, wie lange
er brauchen würde und er fühlte sich schwach. Es war
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