Friesenwut - Kriminalroman
musste überlegen, wie es weitergehen sollte; dazu brauchte er Abstand,
gedanklich und räumlich. Er hatte schon eine Idee, was er an diesem Nachmittag
tun wollte.
24
Der Bus fuhr
pünktlich. Der alte Büssing knatterte laut und brachte Marten Sommer nach
Greetsiel. Von dort ging es weiter zum Leybuchtsiel, mit dem Taxi. In der Eile
hatte Marten es versäumt, irgendetwas mitzunehmen. Der Zehner, den er in der
Hosentasche fand und mit dem er den Taxifahrer entlohnte, war kein Zufall
gewesen. Er steckte oft Scheine einfach in die Tasche. Immer musste er an die
Bösen im Western oder italienische Mafiosi denken, die lässig einen Stapel Geld
aus der Hemdtasche holten, um den Killer auszuzahlen, der in ihrem Auftrag
handelte. ›Killer‹, dachte Marten, und dann fiel ihm Alex Aldenhoff ein.
Hier am Siel lag die
kleine Jolle seines Freundes Peer Jensen. Früher waren sie oft in die Leybucht
hinausgesegelt. In den letzten Jahren fehlte ihm die Zeit. Aber er kannte das
Boot und wusste damit umzugehen. Die Sonne schien, der Wind wehte aus der
richtigen Richtung. Er entfernte in Windeseile die Persenning. Hinter dem Mast
stand ein Werkzeugkasten, ein paar Holzleisten daneben, Marten nahm das nur
beiläufig wahr und warf die Plane achtlos darüber. Die im Augenblick wichtigen
Dinge waren an ihrem Platz. Nichts war abgeschlossen. »Hier klaut keneen wat,
bi uns in Leybucht doch neet!«, behauptete Peer seit jeher.
Nach
dem Gespräch mit den Kommissaren Itzenga und Ulferts war Marten Sommer außer
sich. Sein Hof stand vor dem Aus, die Verdachtsmomente der Polizei … Das war –
für den Moment – zu viel. Er setzte sich die fixe Idee in den Kopf, seit
langer Zeit mal wieder einen Schlag segeln zu gehen. Er brauchte ein paar
Stunden, um sich zu besinnen, um zumindest zu versuchen, die Gedanken zu ordnen
und ein Erklärungsgebäude zu entwickeln, was schwierig genug war. Auf dem Boot
würde ihn niemand vermuten, hier hatte er seine Ruhe. Nur ein, zwei Stunden
wollte er sich den Seewind um die Nase wehen lassen, dabei nachdenken. Abends
wäre er zurück.
Marten hielt die
Pinne rechts, die Großschot links in der Hand und das Boot fuhr flott voraus.
Weg hier, erst einmal verdauen, was passiert war. Für einen Moment vergaß er
den Unfall, die Polizei und all die Verdächtigungen. Er wollte sich so richtig
durchpusten lassen. In der nur vom Wind und Möwengeschrei unterbrochenen Stille
und Weite des Wattenmeeres würde es ihm gelingen, seine Gedanken zu ordnen. Die
konnten ihn doch nicht wegen eines Stiefelabdrucks festnageln. Andererseits gab
es ein Motiv, sie hatten ja recht … in gewisser Weise. Und ein Alibi konnte er
nicht bieten. Das musste her.
Der junge Mann dachte
angestrengt nach. Dabei steuerte er die Jolle weiter auf das Wattenmeer hinaus,
fuhr Amwindkurs. Die Schoten holte er dicht und befestigte sie in den
Curryklemmen. Der Wind wehte beständig, deshalb hatte er damit keine Probleme.
Die Pinne fest in der Hand, steuerte er das kleine Boot elegant durch die See.
Er meinte die Fahrrinne zu kennen, allerdings hatte sich deren Verlauf
inzwischen deutlich geändert. Manchmal ging das schnell und die Pricken, die
das Fahrwasser anzeigten, waren schon nicht mehr auf dem aktuellen Stand –
das konnte bei nicht ganz so wichtigen Fahrrinnen schon mal passieren. Es gab
einen Kapitän auf einer der Fahrgastfähren von Norddeich nach Juist, der lief manchmal
bei Ebbe barfuß ins Watt, um Pricken zu versetzen. Er identifizierte während
der Fahrt anhand seiner hochgenauen Messgeräte die richtige Fahrrinne und sah
dabei, dass einige Pricken nicht mehr an der richtigen Stelle standen, den Rest
erledigte seine langjährige Erfahrung mit Wind und Wasser. Jedenfalls hatte ihm
das jemand erzählt. Diese Veränderungen waren nichts Besonderes, das Wattenmeer
modifizierte ständig die Führung der Priele, doch Marten fehlte ein wenig die
Erfahrung. Er war lange nicht mehr auf See gewesen, und obwohl das Segel gut
getrimmt war und das Boot bemerkenswerte Fahrt machte, überkam ihn plötzlich
ein ungutes Gefühl. Er kramte im Gedächtnis und dachte kurz an die Lektion über
den scheinbaren Wind, der sich aus dem wahren Wind und dem Fahrtwind des Bootes
ergab. Der war demnach nur an Bord wahrzunehmen, was Marten im Moment zu spüren
schien. Wie lang war das her, dass er seinen Segelschein gemacht hatte? Das
brachte ihn in die Realität zurück: Ich bin wohl etwas weit
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