Frisch gepresst: Roman (German Edition)
Schon ist sie wieder weg. Inge macht freudestrahlend die linke Brust frei, und der kleine Konstantin Samuel David schnappt wie ein Goldfisch danach. Wer so schreit, kann leider nicht mehr genau zielen. Es ist wirklich spannend. Wird er es schaffen? Inge schiebt, ihr Sohn schnappt, und endlich ist es getan.
Schlagartig ist das Gebrüll vorbei.
Ein schönes Kind ist dieser Konstantin Samuel David bei genauer Betrachtung nicht gerade. Jetzt, nachdem er sich abgeregt hat, schimmert sein Gesicht gelblich. Wahrscheinlich Neugeborenengelbsucht. Soll ja häufig vorkommen. Oder hat’s die Müller-Wurz mit einem Asiaten? Kaum vorstellbar. Ein Asiate, der Wurz heißt. Aber ein interessanter Gedanke. Ein Boat People, adoptiert von einer Familie Wurz. Ein Vietnamese. Und die Inge hat ihn, der als Verkäufer in einem Naturkostladen arbeitet, bei einem Wochenendseminar zum Thema: »Wie schrote ich mein Müsli?« kennengelernt. Vielleicht war alles aber auch ganz anders, und sie ißt einfach nur eine Menge Ginseng. Direktimport. Ungespritzt natürlich.
Ich glaube, manchmal geht meine Phantasie echt mit mir durch.
Konstantin Samuel David ist eins von diesen dürren Babys. Was später verpönt ist, macht Babys schnuckeliger. Fett. Ein böses Wort, aber diese dünnen Kleinen sehen irgendwie merkwürdig aus. So zerknautscht und dann der Riesenkopf und die schmalen Ärmchen und Beinchen. Wie diese günstigen Tiefkühlhühnchen. Mickerig und bemitleidenswert. Komischerweise macht das Dünne auch alt. Besonders kleine Jungs haben oft direkt nach dem Schlüpfen wahnsinnig alte Gesichter. So mager, vertrocknet. Wenig vorteilhaft. Aber so was kann sich ja noch verwachsen. Warum mache ich mir eigentlich Sorgen darüber, wie Konstantin Samuel David später mal aussieht? Kann mir doch wurscht sein. Aber möglicherweise lernt er meine Claudia beim Studium kennen, verliebt sich, und Inge und ich sehen uns beim Standesamt mit verweintem Gesicht wieder. Da möchte ich dann schon, daß Konstantin etwas flotter aussieht.
So oder so brauche ich meinen Schlaf. Schließlich steht morgen Besuchsgroßkampftag auf dem Programm, und da will ich ja nicht zerknitterter aussehen als der Sohn von der Müller-Wurz. »Also dann, gute Nacht«, nehme ich einen zweiten Anlauf und knipse mein Nachttischlämpchen aus. Mittlerweile bin ich so müde, daß mich nichts mehr stört. Inge schwatzt auf ihren Sohn ein, irgendwas von wegen, »er solle seine weiblichen Anteile nicht unterdrücken«. Und was tut der Zwerg? Er schmatzt selig und ungerührt vor sich hin. Frau Tratschner, zu meiner Linken, führt Dauertelefonate und erzählt immer wieder ihr Verdauungsdrama: »Und da dachte ich, jetzt geht’s, und wieder nix. Wie Wackersteine liegt mir das im Magen … «
Ich fühle mich schon fast wie zu Hause. Oder im Mädchenschlafsaal eines Internates. Ich liebe Internate. Ich hätte alles dafür gegeben, in eins zu kommen. Hanni-und-Nanni-Leserinnen meiner Generation werden mich auf Anhieb verstehen. Verrückte Schlafsaalparties mit Dosenpfirsichen und tolle Freundinnen in jedem Etagenbett. Traumhaft. Aber meine Eltern haben nicht mitgespielt. Sie waren schlichtweg zu geizig. »Für dich tut’s auch eine normale Schule, und wenn Internat, dann kannst du zu den Nonnen.« Pech. Keine Zwillingsschwester und noch nicht mal ein Internat. Da half kein Betteln und Jammern. Richtig verziehen habe ich ihnen das allerdings bis heute nicht.
Als ich wieder aufwache, herrscht hektische Betriebsamkeit in unserem Drei-Bett-Zimmer. Der Grund:
Miss Piggy, Schwester Christel, steht in der Tür. »Frau Schnidt, Frau Tratschner, Fütterung der jungen Raubtiere!« Nein, wie witzig. Und das um 1.30 Uhr. Frau Tratschner hat den Kaiserschnittvorteil und bekommt ihre Tochter frei Bett geliefert. »Hier haben Sie das Fläschchen für ihre Prinzessin, Frau Schnidt, sie liegt noch drüben, wenn Sie sie gerade mal holen können.« Ich kann schon. Lust habe ich aber keine. Ist halt kein 5-Sterne-Hotel hier. Obwohl es etwa soviel kostet. Aber ich denke, damit kann ich bei Schwester Christel kaum landen. Was bleibt mir also übrig? Ich ziehe meinen schicken neuen Bademantel drüber und schlurfe ins Babyzimmer. Den Bademantel habe ich von meiner Mutter. Modell Maritim. Blau-weiß gestreift. Innen Frottee, außen Baumwolle. Sie hat nämlich beschlossen, daß ich in meinem alten Teil Schande über die Familie bringen würde. Getreu ihrem Motto: Gleichgültig, was man tut, Hauptsache, man sieht
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