Frisch verliebt - Mallery, S: Frisch verliebt
Anfall hattest“, fuhr Nicole fort, wobei sie eher neugierig als besorgt klang. „Nimmst du irgendwelche Medikamente dagegen?“
Claire merkte, wie sie rot wurde, aber sie zwang sich dazu, dies durchzustehen. „Ich hatte eine Panikattacke, aber ich bin selbst damit fertig geworden.“
„Erwarte bloß keine Auszeichnung dafür, dass du aufgekreuzt bist“, knurrte Nicole.
Claires Verlegenheit schlug in Ärger um. „Habe ich dich etwa um eine Auszeichnung gebeten? Habe ich dich überhaupt um irgendetwas gebeten? So wie ich mich an die Ereignisse der letzten Tage erinnere, habe ich einen Anruf von Jesse erhalten, in dem sie mich bat, nach Hause zu kommen, weil du Hilfe brauchen würdest. Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin gleich am nächsten Morgen losgeflogen und hier aufgekreuzt, um genau das zu tun, nämlich mich um dich kümmern. Ich habe dich mit Mahlzeiten und Snacks versorgt, dir ins Badezimmer geholfen, dir gebracht, was auch immer du haben wolltest, und ich habe in der Bäckerei ausgeholfen. Im Gegenzug bist du nichts als gehässig und sarkastisch. Was ist los mit dir?“
Nicole legte die Gabel aufs Tablett. „Was soll mit mir los sein? Du bist diejenige, die alles verkorkst hat. Du denkst, ich müsste dafür dankbar sein, dass du dein ach so exquisites Ego einmal für ein paar Tage in die Welt der Arbeiter und Bauern geschleppt hast? Und du glaubst, damit könntest du alles wieder aufwiegen?“
„Das sagst du, nicht ich.“ Claires Stimme wurde jetzt lauter. „Und da du davon sprichst, dass ich endlich einmal hier auftauche – ich habe seit Jahren versucht, Verbindung zu dir aufzunehmen. Ich habe Briefe geschickt und E-Mails, ich habe dir Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Von dir bekomme ich keine Antwort. Nie. Ich habe dich eingeladen, mich auf Tournee zu begleiten. Ich habe dich gefragt, ob ich nach Hause kommen kann. Die Antwort ist immer dieselbe: nein. Oder genauer gesagt: Fahr zur Hölle.“
„Warum sollte ich wohl Zeit mit dir verbringen wollen? Du bist doch nichts anderes als eine egoistische, eigennützige Prinzessin, die ihre Mutter auf dem Gewissen hat.“
Und ich hasse dich!
Die letzten Worte sprach Nicole zwar nicht aus, aber das war auch nicht nötig.
Eine Zeit lang starrte Claire ihre Schwester nur an und wusste nicht, mit welchem Vorwurf sie sich als Erstes auseinandersetzen sollte. „Du kennst mich doch überhaupt nicht“, sagte sie schließlich leise. „Seit mehr als zwanzig Jahren kennst du mich nicht mehr.“
„Und wessen Schuld mag das wohl sein?“
„Meine jedenfalls nicht.“ Claire atmete tief durch. „Ich habe sie nicht auf dem Gewissen. Wir saßen zusammen im Auto. Es war spät und es regnete. Dann tauchte aus dem Nichts plötzlich ein Wagen auf, der auf ihrer Seite in unseren hineinfuhr. Wir waren eingeklemmt und kamen nicht mehr raus. Sie starb und es gab nichts, was ich hätte tun können.“
Bei der Erinnerung an diesen Albtraum schloss Claire die Augen. Die Kälte jener Nacht, die Art, wie der Regen in das zerstörte Auto getropft war, und dann, wie ihre Mutter gestöhnt hatte, als sie starb.
„Auch ich habe sie verloren“, flüsterte Claire und sah ihre Schwester an. „Sie war alles, was ich hatte, und auch ich habe sie verloren.“
„Glaubst du, das interessiert mich?“, schrie Nicole. „Nicht im Geringsten. Sie ist weggegangen. Sie hat uns deinetwegen verlassen, und sie war alles, was ich hatte. Als sie fort war, musste ich mich um alles kümmern. Damals war ich zwölf. Ich war zwölf Jahre alt, als ich begriff, dass sie lieber bei dir war als bei mir oder Jesse und Dad. Sie war einfach weg, und ich musste alles tun. Mich um Jesse kümmern, um das Haus, und in der Bäckerei aushelfen. Dann war sie tot. Kannst du dir vorstellen, wie es danach war? Kannst du das?“
Claire erinnerte sich an die Beerdigung. Wie sie dabei mehr mit Lisa zusammengestanden hatte als mit ihrer Familie, denn sie waren ihr alle fremd geworden. Und sie erinnerte sich, wie sie sich gewünscht hatte, weinen zu können, aber keine Tränen mehr hatte.
Sie wusste auch noch, dass sie mit Nicole zusammen sein wollte, ihrer Zwillingsschwester. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, dass ihr Vater nun sagen würde, es wäre jetzt an der Zeit nach Hause zu kommen, zu Hause zu bleiben. Stattdessen hatte Lisa ihm Claires Stundenplan erläutert, von ihren Konzertterminen gesprochen und davon, dass sie für ihr Alter schon sehr reif sei und in der
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