Frisch verliebt - Mallery, S: Frisch verliebt
danach, um ihn zu nehmen. Eine Sekunde lang, vielleicht auch zwei, kam es dabei zu einer Berührung. Seine Finger auf ihrer Handfläche. Es war nur ein kurzes Streifen über Haut, und völlig belanglos. Wenn nur nicht plötzlich ein Feuer in ihm ausgebrochen wäre.
Du verfluchter Hurensohn, dachte er grimmig, riss seine Hand zurück und steckte sie in die Jackentasche. Auf keinen Fall. Nicht sie. Lieber Gott, jede andere außer ihr.
Claire plapperte weiter, vermutlich dankte sie ihm. Er hörte nicht mehr zu. Stattdessen fragte er sich, warum von allen Frauen der Welt es ausgerechnet sie war, die bei ihm diese heiße, leuchtend helle sexuelle Energie auslöste.
Die Frau mit der ruhigen Stimme aus dem Navigationssystem leitete Claire zu dem Haus, in dem sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Direkt davor fand sie in der schmalen Straße einen Parkplatz, und zwar gleich in der Auffahrt, sodass sie nur vorwärts hineinfahren musste, um ihn zu belegen. Niemals würde sie in der Lage sein, rückwärts einzuparken.
Sie stellte den Motor ab, stieg aus und schloss den Wagen ab, indem sie den Schlüsselanhänger zum Einsatz brachte. Es war zwar albern, aber sie war stolz auf sich selbst, und so ging sie ums Haus herum nach hinten, wo sie den Ersatzschlüssel an dem Platz fand, den Jesse ihr bezeichnet hatte. Sie schloss die Hintertür auf und betrat das Haus.
Seit Jahren hatte sie dieses Haus nicht mehr von innen gesehen. Fast zwölf, dachte sie und erinnerte sich an die einzige Nacht, die sie unter diesem Dach verbracht hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war. Eine Nacht, in der Jesse sie wie eine Fremde angestarrt und Nicole sie mit offenkundiger Abscheu angefunkelt hatte. Und nicht, dass Nicole sich mit schweigender Kommunikation zufriedengegeben hätte. Mit sechzehn fühlte sie sich sehr wohl dabei, ihre Meinung laut zu verkünden.
„Du hast sie umgebracht“, schrie sie. „Du hast sie uns weggenommen und dann hast du sie getötet. Das werde ich dir nie verzeihen. Ich hasse dich. Ich hasse dich.“
Lisa, Claires Managerin, hatte sie damals von dort weggeholt. Sie hatten eine Suite im Four Seasons gemietet und bis nach der Beerdigung dort gewohnt. Anschließend waren sie gleich von Seattle nach Paris geflogen. Frühling in Paris, hatte Lisa gesagt. Die Schönheit der Stadt würde sie heilen.
Das hatte sie nicht getan. Erst die Zeit hatte die Wunden geschlossen, die Narben aber waren immer noch vorhanden. „Springtime in Paris“ – die Worte erinnerten sie an den Song, und jedes Mal, wenn sie ihn hörte, erinnerte sie sich umgekehrt an den Tod ihrer Mutter und daran, wie Nicole gebrüllt hatte, dass sie Claire hasste.
Claire schüttelte die Erinnerungen ab und ging in die Küche. Sie hatte sich verändert und wirkte jetzt irgendwie moderner und größer. Offensichtlich hatte Nicole das Haus renoviert, jedenfalls zum Teil. Sie sah sich weiter im unteren Stockwerk um und stellte fest, dass einige kleinere Zimmer zu größeren Räumen zusammengefügt worden waren. Es gab jetzt ein großes Wohnzimmer mit bequemen Sitzmöbeln in warmen Farben. An der Wand stand ein Glasschrank, der einen Flachbildfernseher und andere Elektronik verbarg. Das Esszimmer sah aus wie immer, aber das kleine Schlafzimmer hier unten war in eine Art Arbeitszimmer oder Rückzugsraum umgestaltet worden.
Das Haus war dunkel und kalt. Sie entdeckte den Thermostat und stellte die Heizung an. Ein paar Lampen sorgten dann auch für Licht, was das Haus aber nicht im Geringsten einladender machte. Vielleicht ist aber auch das Haus gar nicht das Problem, überlegte sie. Es mochte viel eher an ihr selbst liegen, und an den Erinnerungen, die sie nicht vertreiben konnte.
Das letzte Mal war sie zur Beerdigung ihres Vaters nach Seattle gekommen. Irgendein Mann hatte sie kurz angerufen und mitgeteilt, dass ihr Vater gestorben war. Vermutlich Wyatt, dachte Claire, als sie sich auf dem Rand des Sofas niederließ. Er hatte ihr Datum, Uhrzeit und Ort der Beerdigung bekannt gegeben und dann gleich wieder aufgelegt.
Anschließend hatte Claire unter Schock gestanden, denn sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass ihr Vater überhaupt krank war. Niemand hatte es ihr gesagt.
Sie war sich im Klaren darüber, was man hier von ihr dachte – dass sie sich nichts aus ihrer eigenen Familie machte, dass ihr alles gleichgültig war. Wie oft hatte sie versucht, zu erklären, dass sie schließlich diejenige war, die fortgeschickt wurde. Ihren Schwestern
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