Frische Spur nach 70 Jahren
Karls
Brille. Und wurde weggewischt.
Verblüfft blickte Karl in den
noch immer blauen, wolkenlosen Himmel hinauf.
„War Taubenkacke“, sagte Tim.
„Ist aber nicht persönlich gemeint.“
„Ich liebe Tauben“, sagte Karl.
„Klar! Wir alle“, lachte Gaby.
Tim betrachtete das
Einfamilienhaus. Dort und dort war angebaut worden. Ein altes Haus, vermutlich
von 1900. Das Dachgeschoss hatte man zum Atelier erweitert — mit einem hohen
und breiten Fenster, das viel Licht herein ließ. Das Fenster sah sehr neu aus.
Was nicht Atelier ist,
überlegte Tim, ist Dachboden. Und dort ruht Karls unsägliche Entdeckung in
einem alten Koffer: das zweibändige Tagebuch der Beate Nocke - aus den Jahren
1928/29. Das wahre Schauermärchen aus einer anderen Zeit.
Karl deutete auf einen
bescheidenen VW.
„Hildes Auto.“
„Sie fährt noch?“, fragte Gaby.
„Ziemlich flott sogar. Hat gute
Reflexe und scharfe Augen. Manchmal sehe ich sie, wenn sie bei uns in der
Lindenhof-Allee vorbei düst.“
Sie schoben ihre Bikes durch
die Pforte und lehnten sie neben dem Hauseingang an die Mauer. Wilder Wein
rankte sich empor. Er ließ ein kleines Klo-Fenster frei und zwei weitere
Fenster im Obergeschoss.
Karl klingelte.
Das wird schwierig, dachte Tim.
Karl muss gestehen, dass er damals heimlich geschnüffelt hat. Tante Hilde fühlt
sich vielleicht in die Enge getrieben. Auf ihre alten Tage soll sie noch die
Schande der Familie aus der Mottenkiste holen. Hatte sie damals ein gutes
Verhältnis zu ihrer älteren Schwester? Oder waren die beiden wie Hund und
Katze? Vielleicht schmeißt Hilde uns raus. Oder sie zeigt sich kooperativ,
arbeitet mit uns zusammen, wenn ihr klar wird, worum es geht. Und es geht um
irre viel: um die Aufklärung von elf Verbrechen und darum, dass es zu den
nächsten elf Gräueltaten gar nicht erst kommt.
Eine kesse Oma öffnete die Tür.
Hilde war mittelgroß, schlank,
trug das silbergraue Haar sportlich kurz und hatte ein immer noch rassig
proportioniertes Gesicht: mit großen Augen in Hellbraun und nicht zu vielen
Falten. Ihr Blick war, als wollte er die Welt aufsaugen.
Tim mochte Hilde sofort.
„Tag, Tante Hilde!“
Karl fiel ihr fast in die Arme
und wurde ihrerseits umarmt.
„Hallo, Karl! Wie nett! Ich
dachte, Klaus hätte den Hausschlüssel vergessen. Deine Freunde, ja?“
Karl stellte Gaby, Tim und
Klößchen vor.
Hilde wurde angebeamt ( angestrahlt )
aus allen Gesichtern und musste sich fühlen wie die netteste Oma der Stadt.
„Malst du gerade?“, fragte
Karl. Er deutet auf die zahllosen Farbflecke auf ihrem hellen Kittel.
„Eigentlich immer. Aber jetzt
ist Pause. Und du weißt ja, dass ich mich über Besuch riesig freue. Kommt
rein.“
Im Wohnraum fiel Tim auf, dass
eine Bratpfanne neben dem Telefon lag. Vielleicht hatte Hilde Spiegeleier
geplant gehabt, war aber durch einen Anruf aus der Küche gelockt worden — samt
Pfanne.
TKKG wurde Platz angeboten.
Auch die Malerin setzte sich und sah Karl prüfend an.
Hat ihn wohl lange nicht
gesehen, dachte Tim. Und in unserem Alter verändert man sich ja von heute auf
morgen. Nicht immer so zum Vorteil wie bei Gaby, die täglich hübscher wird,
aber Entwicklung findet statt bei jedem.
Doch Hildes Prüfblick war
anders zu deuten, wie er gleich hörte.
„Karl, wenn du auf diese Weise
grinst, dann drückt dich der Schuh. Ich kenne dich. Und dass du deine Freunde
mitgebracht hast, gibt deinem Anliegen noch mehr Gewicht. Worum geht es?“
Karl ließ sein Grinsen langsam
aus dem Gesicht fallen und setzte eine feierliche Miene auf.
„Eingangs, Tante Hilde, muss
ich mich entschuldigen. Für den neunjährigen Karl Vierstein, der ich damals
war, und der — rotzfrech wie diese Milchtüten nun mal sind — heimlich in deinen
Sachen geschnüffelt hat. Aber ich schwöre dir: Bis heute habe ich niemandem
davon erzählt.“ Tim sah: Hildes Gesicht wurde so auffällig ruhig, dass sich
dahinter vermutlich allerhand abspielte. Ahnte sie schon, worauf Karl hinaus
wollte?
„Hast du dir meine
Konto-Auszüge angesehen, Karl? Das verzeihe ich dir.“
„Tante Hilde, ich war damals
auf dem Dachboden. Und da sind mir... Beates Tagebücher in die Hände geraten.“
Tim beobachtete Hilde. Die Ruhe in ihrem Gesicht verging. Eine heftige Bewegung
lief darüber, als würde an jedem Fältchen gezerrt. Die Malerin zwinkerte
heftig. „Ach?“
„Inzwischen wissen natürlich
meine Freunde Bescheid“, sagte Karl.
„Du... du hast die
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