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Frische Spur nach 70 Jahren

Frische Spur nach 70 Jahren

Titel: Frische Spur nach 70 Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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gelesen?“
    „Nur das erste. Beate war...
deine... Schwester, nicht wahr?“
    Hilde nickte und schloss für
einen Moment die Augen, als blicke sie zurück in fernste Vergangenheit.
    „Meine Schwester, ja! Und wir
haben uns großartig verstanden. Ich war ja das Nesthäkchen, sie die Große. Sie
hat mich verwöhnt. Niemand ahnte was von ihrem... Doppelleben. Wir, die
Familie, erfuhren erst davon, als Beate und Claus von der Polizei gestellt wurden.
Ein Feuergefecht. Ihr Kleinwagen, ein Hanomag — rollendes Kommissbrot genannt —
wurde von Kugeln durchsiebt. Claus Lohwinkel erlitt einen Streifschuss an der
Schulter und war kampfunfähig. Beate blieb unverletzt. Sie ergab sich. Als
alles bekannt wurde, war das ein Schock für meine Eltern. Und für mich. Obschon
ich damals als Zehnjährige gar nicht alles begriffen habe. Für mich ist Beate
lange — eigentlich immer — die liebevolle große Schwester geblieben. Ich habe
viel um sie geweint. Meine Eltern haben die... Schande nie verwunden. Nach der
Aburteilung, nach der Hinrichtung war nichts mehr wie ehedem. Meine Eltern sind
früh gestorben - kaum, dass ich volljährig war.“
    Hilde hatte die Augen wieder
geöffnet und blickte auf ihre Hände, als stünden dort Stichworte.
    Tim räusperte sich. „Wurde Ihre
Familie gesellschaftlich geächtet?“
    „Nein. Seltsamerweise nicht.
Mein Vater war höherer Postbeamter und so untadelig, dass an ihm — und auch an
meiner Mutter — nichts hängen blieb. Kein Stäubchen. Freunde und Bekannte
einigten sich darauf, dass Beate krank gewesen sein müsse. Geisteskrank,
vielleicht. Zumindest seelisch total von der Rolle. Und das war sie wohl auch.
Aus heutiger Erkenntnis würde man sagen: psychisch gestört. Außerdem war sie
Opfer.“
    „Opfer von diesem Claus?“,
fragte Gaby.
    „Ja. Sie war total von ihm
abhängig.

    Die Freundschaft bestand seit
1923. Da war Beate gerade mal 16. Und völlig unerfahren — total behütet. Meine
Eltern sahen diese Beziehung nicht ungern. Denn Claus war in seinem offiziellen
Leben ein netter, scheinbar unkomplizierter junger Mann mit Zukunftsaussichten.
Vielleicht nicht der Traum aller Mütter, aber doch ein akzeptabler
Schwiegersohn. Er studierte Architektur. Lieber wäre er allerdings Schauspieler
geworden. Das klappte jedoch nicht. Er hatte keine Familie. Ein Waisenjunge.
Aufgewachsen in einem Heim. Und dort ging es damals anders zu als heutzutage.
Von liebevoller Hinwendung keine Spur — mal abgesehen von seltenen Ausnahmen.
Vielleicht hat sich da ein abgrundtiefer Hass in ihm aufgestaut — Hass gegen
die Gesellschaft, gegen die Menschen, gegen alle — und unbewusst wohl auch
gegen Beate. Denn sonst hätte er sie nicht hineingezogen in sein Banditenleben.
Dass das nicht lange gut gehen konnte, war doch klar. Er stammte aus Berlin.
Das Geld für Unterhalt und Studium verdiente er sich als Hilfspostbote. Aber
das hatte nichts mit meinem Vater zu tun. Das war an einem anderen Postamt.
Dienstlich, sozusagen, sind die beiden nachweislich nie zusammengetroffen.“
    „Sie meinen“, sagte Gaby
einfühlsam, „Beate war zu schwach, um sich von ihm zu lösen. Also hat sie
mitgemacht. Und er hat sie ins Verderben gerissen.“
    Hilde nickte. „Genau so ist es
gewesen, Gaby. Eine Tragödie.“
    So romantisch und rosig, dachte
Tim, sehe ich das aber nicht. Für diese Gräueltaten musste Beate viel
kriminelle Energie aufbringen. Nur wer’s kann, kriegt das fertig. Bei Hildes
Schwester ist die Hemmschwelle so niedrig gewesen wie eine Staubschicht von
gestern. Aber Hilde musste sich diese Katastrophe schöndenken, sonst wird die
Familienchronik zum Horrorschinken — und die Erinnerung ist ein einziger
Alptraum.
    Tim räusperte sich abermals und
hielt es nun für angebracht, die Vergangenheit zum Hilfsmittel zu erklären und
sich der Gegenwart zuzuwenden.
    „Frau Nocke! Beate und Claus
erleben im Moment eine geistige Wiedergeburt. Haben Sie’s in der Zeitung
gelesen?“ Hilde schüttelte den Kopf. „Nein. Ich lese kaum noch Zeitung. Und
wenn — dann nur über Weltpolitik.“
    „Es ist aber so. B & C
sind wieder da. Und spulen das gleiche Programm ab. Elf Verbrechen bisher.
Unser Freund
    Willi ist das heutige Opfer.
Elf Verbrechen! Damit ist Band eins abgehakt. B & C-Aktuell ähneln den
Vorbildern von damals beträchtlich. Äußerlich und...“
    Er berichtete in Kurzform. Und
fuhr dann fort: „Diese Nachahmer kann man wohl kaum als romantische Spinner
bezeichnen, die ihren

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