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Frische Spur nach 70 Jahren

Frische Spur nach 70 Jahren

Titel: Frische Spur nach 70 Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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1944 auch eine Kirche gegeben. Aber die war im
Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges zu Schutt und Asche geworden. Wieder
aufgebaut hatte man sie an anderer Stelle — größer und schöner, obwohl ohne die
Patina der 300-jährigen Geschichte, und gleich mit einem modernen, komfortablen
Pfarrhaus, von wo aus jetzt ein junger Geistlicher segensreich tätig war. Für
die Gemeinde. Und darüber hinaus als eine Art Streetworker für die
multikulturelle Jugend dieser Gegend. Alle — ob junge Türken, Asiaten, Rumänen
oder Generationsdeutsche — kamen friedlich miteinander aus.
    Im Pauk-Studio Tritze wurde
nachmittags und am Samstag unterrichtet, bzw. gedrillt.
    An diesem Vormittag befanden
sich 18 Kinder im Pfarrhaus: 13 Jungen und fünf Mädchen. Alle waren zwischen
zehn und zwölf Jahre alt. Sämtliche Mädchen befanden sich erst kurze Zeit in
Deutschland und machten trotzdem die besten Fortschritte.
    Dr. Helga Tritze — eine dürre
Rothaarige mit verkniffenem Mund — hatte ihre Gruppe, acht Kids, in einem
hofseitigen Parterre-Zimmer in der Mache. Dort saß man auf unbequemen Stühlen
an unbequemen Tischen und musste höllisch aufpassen, damit’s keinen Anschiss
gab. Ansonsten verfügte der Raum über Computer mit Internet-Zugang, über
Dia-Projektor, viele Fachkundebücher und zahlreiches Lehrmaterial.
    In dieser Stunde wurde neue
deutsche Rechtschreibung gepaukt. Erzebet und Giannoula waren wieder mal die
Besten.
    Nebenan unterrichtete Helmut
Tritze Mathematik. Er war groß, fett, ja schwammig. Im Gefängnis, wo ihm das
Essen überhaupt nicht schmeckte, hatte er sich vorgenommen, später in Freiheit
alle entgangenen Gaumenfreuden nachzuholen. Das tat er. Völlerei war ein mildes
Wort für seinen Umgang mit Nahrungsmitteln. Deshalb lautete sein Spitzname Pudding. Doch das bezog sich nur auf die Figur. Denn wenn’s um geistigen Drill ging, war
er härter als Stahl.
    Als das Motorrad auf den Hof fuhr,
trat Helga Tritze ans Fenster und blickte hinaus.
    Sie sah noch, wie eine schwere
Maschine — besetzt mit zwei Personen in schwarzen Motorradanzügen und schwarzen
Helmen — um die Hausecke rollte und dann an der Schmalseite, also außer
Sichtweite, hielt.
    Der Motor verstummte.
    Helga fragte sich, wer das sei.
Erwartet wurde niemand. Aber es war immer mal möglich, dass sich jemand durch
das weit geöffnete Tor zwischen den brüchigen Mauern auf den Hof verirrte: in
der Meinung, hier könne man kostenlos parken.
    Oder junge Eltern wollten ihren
faulen und lernunwilligen Schulversager zum Crash-Kurs anmelden.
    Die Eingangstür polterte — weil
sie etwas schief in den Angeln hing. Schwere Schritte auf den Dielen. Etwas
wurde abgesetzt — klang nach Eimer oder so. Schritte zu Helgas Tür, Schritte zu
Helmuts Tür.
    Die Einpaukerin wollte gerade
sagen, dass sich alle ruhig verhalten und die Nase ins Buch stecken sollten —
als die Tür aufgestoßen wurde.
    Der zehnjährige Kevin, der
immer etwas nervös und zappelig war, schrie auf.
    Helga blieb der Schrei im Halse
stecken.
    Was soll das?, dachte sie dann.
Ist das Fasching? Wildwest? Die Konkurrenz? Oder etwa ein Überfall?
    Die maskierte Person war nicht
groß. Spätestens mit dem zweiten Blick konnte man feststellen: eine Frau.
    Schwarzer Motorradanzug. Der
Kopf steckte in einer grünen Strumpfmaske mit Schlitzen. Die rechte Hand hielt
eine Pistole.
    „Ganz ruhig, Kinder!“, sagte
Helga mit einer Stimme wie Holzleim. „Jeder bleibt auf seinem Platz.“
    „Nein!“, kam es schrill und
piepsig unter der Strumpfmaske hervor. „Hier wird gemacht, was ich sage! Sonst
knallt’s. Kapiert, Tritze?“
    „Was... wollen Sie?“
    „Ich stelle die Fragen! Wenn es
was zu fragen gibt.“

    „Verstehe. Ich nehme die Frage
zurück.“
    „Wir sind B & C. Wer
kennt uns?“
    Das galt offenbar den Kids. Die
waren erstarrt auf ihren Stühlen. Aufgerissene Augen, angstvolle Mienen. Keine
Antwort.
    Die Maskierte schien umher zu
blicken. Ihre Pistole war auf Helga gerichtet.
    „Kennst du uns?“
    „Meinen Sie mich?“, fragte
Helga.
    „Ja, dich.“
    „Nein. Ich habe keine Ahnung,
wer Sie sind.“
    „Noch nie von B & C
gehört?“
    „Nein. Was... bedeutet das: B
& C? Ach so, ich darf ja nicht fragen.“
    „Wir sind Beate und Claus.“
    „Hm.“
    Eine Männerstimme rief von
nebenan: „Bist du so weit?“
    „Alles unter Kontrolle“,
erwiderte Beate in gleicher Lautstärke.
    „Deine Gruppe zuerst!“
    Beates Hand mit der Pistole
zeichnete einen halben Kreisbogen in die

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