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Frische Spur nach 70 Jahren

Frische Spur nach 70 Jahren

Titel: Frische Spur nach 70 Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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grätschten auf die Sättel.
    Aber Tim erriet, wer da kam,
und äugte.
    Ein junger Mann stieg aus,
beschleppt mit zwei Einkaufstüten. Er war groß, blond, etwa Mitte Zwanzig und
hatte ein längliches, ziemlich starkknochiges Gesicht mit gekrümmter Nase. Die
Haltung wirkte eher schlaff, aber vielleicht lag das auch an den Tüten.
    Krummnase schloss die Tür
seines Autos mit einem Tritt und blickte dann her.
    Tim registrierte, wie er
stutzte. Klar doch! Sie kamen unzweifelhaft von dem Grundstück, also hatte
seine Oma Besuch gehabt.
    „Das ist Klaus Nocke, der
Enkel“, sagte Karl leise. Er war aufmerksam geworden. Laut rief er dann: „Tag,
Klaus! Kennen Sie mich noch? Ich bin der Karl.“
    Krummnase nickte. „Hallo!“, rief
er. Aber das war auch schon alles. Er wandte sich ab und trug die Tüten zum
Haus.

    „Er ist 25“, erläuterte Karl
halblaut, „und wohnt immer noch bei Oma. Ich glaube nicht, dass sie ihm von
Beate erzählt hat. Nein, garantiert nicht. Deshalb war auch das Fotoalbum so
weit hinten versteckt. Tante Hilde hat sich große Mühe gegeben mit Kläuschens
Aufzucht. Das habe ich gehört, als sich meine Eltern über sie unterhielten.
Aber der Enkel ist ein ziemliches Weichei, fast schon ein belgisches. Er jobbt
als Piano-Player in einer Kneipe.“
    Als sie abfuhren, wandte Tim
nochmals den Kopf.
    Klaus Nocke stand an der
Haustür, hatte den Einkauf abgesetzt und starrte ihnen nach.

9. Wie eine
Waberlohe
     
    Leider stellte sich heraus,
dass keiner die Texte kannte — die Strophen der deutschen Volkslieder.
    Auch Dr. Helga Tritze hatte
sich überschätzt, hatte geglaubt, ihr würde wieder einfallen, was sie seit
vielen Jahren nicht mehr aufgefrischt hatte. Nichts fiel ihr ein. Jetzt war sie
blamiert, konnte den Text nicht vorsprechen und sang auch ziemlich krächzend.
    Pudding, ihr Mann, hatte ohnehin nur
ein bisschen gebrummt und sich dann bemüht, seine Gesichtsfarbe zu
normalisieren.
    Bei vier Liedern reichte es zur
ersten Strophe, dann verstummte der bängliche Gesang. Bedrückende Stille füllte
den Kellerraum. Die Kids hatten sich auf den Boden gesetzt, jeder auf seine
Jacke oder sein Sweatshirt.
    Alle hatten Angst, allen war
erbärmlich zu Mute. Lediglich Jörg machte den Clown und erklärte die rechte
hintere Ecke zur Toilette und sich selbst zum Toilettenmann.
    „Wer mal muss“, flachste er
immer wieder, „für 50 Pfennig darf er. Für ‘ne Mark halte ich meine Jacke
davor.“
    „Jörg, du bist jetzt ruhig!“,
schnauzte Helmut Tritze ihn an.
    Er musste nämlich wirklich,
hatte vorhin fünf Tassen Tee getrunken und näherte sich einem Notstand, der ihm
Schweiß aus den Achseln trieb.
    Und dieser unverschämte Bengel
redete noch dauernd davon. Nicht auszudenken die Peinlichkeit, wenn
ausgerechnet der Institutsleiter in der Ecke den Anfang machte.
    Helmut Tritze hatte gegen die
Tür gehämmert und sich zweimal mannhaft dagegen geworfen.
    Aussichtslos! Schmerzen in der
Schulter, die nicht nachließen, als einziges Ergebnis.
    Jetzt lehnte er an der Tür und
dachte an eine glutheiße, trockne Wüste — in der man ihn zurückgelassen hatte.
Nur nicht an Tee denken! Nicht an seine Blase!
    Helga trat neben ihn. Der Duft
des Parfüms, mit dem sie morgens immer verschwenderisch umging, war verflogen. Jetzt
roch sie nach Pfarrhaus und Schule.
    Apropos (nebenbei bemerkt) riechen! Helmut drehte etwas den Kopf und schnüffelte zur Tür hin.
    „Was ist?“ Helga sah ihn an.
    „Riechst du’s nicht?“
    „Nein. Was?“
    „Durch die Ritzen rieche
ich’s.“
    „Was denn?“
    „Weiß nicht.“
    Er hatte sich umgedreht und
schob sein Gesicht in den aus Mauer und Tür gebildeten Winkel — rechts, wo die
Tür angeschlagen war.
    Tritze hatte immer eine gute
Nase gehabt, eine Hundenase — fast. Jetzt nahm er eine Witterung auf, die ihm
überhaupt nicht gefiel, obwohl er nicht wusste, was es war.
    Auch Helga schnupperte.
    „Benzin! Helmut, das ist
Benzin!“
    „Nein, Benzin riecht anders.“
    „Es stinkt. Vielleicht... haben
wir einen Rohrbruch?“
    „Noch was?“
    Sie hatten leise gesprochen,
aber in der Stille blieb kein Wort ungehört.
    Benjamin, der in der Nähe auf
seiner Jeans-Weste hockte, stand auf und schob sich heran.
    Er war zwölf, ein hübscher
Junge mit blonden Locken, aber klein für sein Alter und zartgliederig. In
naturwissenschaftlichen Fächern war er beschlagen wie kein anderer, aber in
Deutsch ein glatter Sechser und völlig unbegabt für Fremdsprachen. Trotzdem
würde er

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