Frischluftkur: Roman (German Edition)
Kitschromanen, zu schüchtern ist ihre Fantasie, zu schwach ihre Vorstellungskraft. Dafür, stellt Marlies fest, ist sie noch nicht befreit genug. Dafür ist die Selbstzensur noch zu stark. Sie braucht etwas Konkreteres.
Da bietet sich natürlich an, etwas zu erleben. Aber das hat ja schon vorher nicht geklappt – warum sollte es also jetzt funktionieren? Marlies versucht es, sie strengt sich wirklich an, will sich kopfüber in Abenteuer stürzen. Aber die Abenteuer weichen ihr aus, und immer, wenn Marlies sich gerade stürzen will, zwischen den Regalen bei Knurres beispielsweise, schreckt sie zurück, weil sie Angst hat, hart zu fallen. Besser gesagt: Dass jemand anderes hart fallen wird. Wie Rocco von der Raupenbahn.
Deshalb, so überlegt sie sich, ist es vielleicht ganz geschickt, ihre Erzählungen mit den Intimitäten anderer anzureichern. Nur: Wie soll sie solche Geschichten erfahren? Sie traut sich ja kaum, nach dem Weg zur Toilette zu fragen, wenn sie mal irgendwo eingeladen ist. Da ist es vielleicht besser, die anderen Leute zu beobachten. Das machen sie und ihre Freundinnen im Rahmen der Operation Frischluftkur ja sowieso. Okay, zuerst wollten sie nur herausfinden, warum sich ihre Männer so seltsam benehmen. Und, schockiert von Ritschies tödlichem Unfall, das Dorf sicherer machen. Doch inzwischen hat sich das ganze Projekt irgendwie verselbstständigt, und jetzt wissen Marlies, Tina, Petra und Hanna, was in jedem Haus vorgeht. »Unter jedem Dach ein Ach«, hatte Marlies' Großmutter immer gesagt, doch inzwischen weiß Marlies: Nicht nur ein »Ach«, sondern oft auch ein »Ohhhh«, »Ahhhh« und »Wooooaaaaaah«. Manchmal sogar ein: »Ja, gib's mir, du starker Hengst!« Aber das hatte ihre Großmutter wohl nicht gemeint.
Marlies beginnt, diese kleinen Episoden – quasi ein erfreuliches Nebenprodukt der Operation Frischluftkur – in ihren Heftchen festzuhalten. Natürlich verwendet sie nicht die echten Namen. Und sie nimmt sich auch die künstlerische Freiheit, Details zu verändern, Paarungen neu zusammenzustellen, den Protagonisten neue Sätze in den Mund und andere Körperteile in die Hand zu legen. Die Bilder, die ihr die Überwachungskameras liefern, findet sie höchst inspirierend. Sie schreibt und schreibt und schreibt, ein Schulheft nach dem anderen füllt sie. Heimlich natürlich. Und hochgradig erregt. Immer mit dem Gefühl, etwas streng Verbotenes zu tun.
***
Seit Wochen schreibt Marlies nun schon gegen alle Ungerechtigkeiten an, kämpft still auf ihrem karierten Schlachtfeld für Mindestlöhne und multiple Orgasmen, geißelt Fertighaus-Pfusch und falsche Landfrauenseligkeit. Sie enthüllt nicht nur Leiber, sondern auch, dass Erbsensuppe aus der Dose auf Dorffesten als selbst gemacht verkauft wird. An mögliche Folgen denkt sie nicht. Es tut ihr so gut, das alles rauszulassen.
»Was schreibst du denn da? Darf ich mal lesen?«
Marlies zuckt vor Schreck zusammen. Sie hatte nicht mit Evelyn gerechnet, nicht in der Mittagspause, nicht im Angestelltenaufenthaltsraum von Knurres Kramerlädchen. Nun ist das zwar ein Ort, wo man Supermarktangestellte öfter trifft, aber Evelyn verschläft normalerweise ihre Mittagspausen. Und vielleicht ist Marlies in letzter Zeit auch etwas leichtsinniger geworden? Oft genug ist es ihr gelungen, das Heft noch rechtzeitig zuzuklappen und in eine Zeitschrift zu schieben, den Füller in der Tasche verschwinden zu lassen. Doch Evelyn steht schon genau hinter ihr, schaut über Marlies' Schulter und beginnt zu lesen. Marlies ist wie erstarrt, sie rührt sich nicht. Es wäre ganz leicht, das Heft einfach wegzuziehen oder wenigstens die Hand darüberzulegen, aber Marlies kann nicht. Still verflucht sie ihre gut lesbare Schönschrift.
Aber sie traut sich nicht, Evelyn zu stoppen. Vor ihrer Kollegin hatte sie schon immer Respekt. Und außerdem war sie es doch, die ihr das Buch geschenkt hat, das alles auslöste. Marlies windet sich, als Evelyn sich hinsetzt und das Heft einfach an sich nimmt, liest und liest, als wäre sie gar nicht im Raum.
Nach unendlichen Minuten klappt Evelyn das Heft zu und fragt: »Das hast du geschrieben?«
Marlies sagt gar nichts.
»Blöde Frage«, weist sich Evelyn selbst zurecht. »Ich habe ja gesehen, dass du es geschrieben hast. Das ist ... einfach fantastisch! Total spannend und sehr erregend! Erinnert mich ein bisschen an das Buch, dass ich dir geschenkt habe. Nein, halt, das ist aber was ganz Eigenes. Das musst du veröffentlichen!
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