Frischluftkur: Roman (German Edition)
Zumindest innerlich. Nach außen hin muss das ja keiner merken.
Nun braucht ihre innere Befreiung irgendein Ventil. Sie versucht es mit Tagträumen. Das ist sowieso ihre Lieblingsbeschäftigung, noch vor Lesen. Bislang hat sie in ihren Träumen immer dort abgeblendet, wo die ersten Hüllen fielen und der Körperkontakt über einen Kuss hinausging. Doch neulich, auf der Heimfahrt des Landfrauenausflugs von Du & Deine Welt , da ist sie ein Stück weiter gegangen. Da ging es zur Sache. Im Dunkeln zwar, aber immerhin.
In Marlies brodelt es. Ihre Tagträume werden klarer, deutlicher. Die wollen nach draußen. Sie hat inzwischen das Gefühl, stünden ihr ihre indiskreten Gedanken ins Gesicht geschrieben, als wäre ihre Stirn ein Flachbildschirm, auf dem die sündigen Szenen für alle sichtbar gezeigt werden. Marlies schneidet sich die Haare selbst, denn zu Monique hat sie aus verschiedenen Gründen kein Vertrauen, und stylt sie sich zum Pony, der ihr bis in die Augen hängt und so viel wie möglich von ihrem Gesicht verdeckt. Das ist schwierig, denn Marlies' Haare sind dünn wie schlecht gegossener Schnittlauch. Langsam wird es kritisch.
Sie greift wieder zu ihren Kitschromanen, möglichst harmlosen. Sie liest von Ärzten und Krankenschwestern und wie die sich kennenlernen. Sie taucht in Welten voller Grafen und Sekretärinnen und gehauchten Küssen und zarten Andeutungen ein. Aber das reicht ihr nicht mehr. Immer zieht es sie zurück zu dem scharfen Buch. Sie liest es noch mal. Und noch einmal. Und wieder. Kurzfristige Linderung verschaffen die Prospekte der Bundeswehr, das schwere Gerät beruhigt Marlies' erhitztes Gemüt. Doch bald fängt es wieder an zu brennen.
Als sie das verbotene Buch, wie sie es insgeheim nennt, zum achtzehnten Mal liest – sie hat ihm inzwischen einen unauffälligen Schutzumschlag gehäkelt –, hat sie eine Idee. Schreiben! Sie kann ja auch alles aufschreiben. Und sich genau auf die gleiche Weise befreien wie diese ihr unbekannte, fremde und doch so vertraute Autorin. Okay, die Norddeutsche Tiefebene ist nicht der Orient, doch auch hier gibt es verwirrende Gerüche, flirrende Farben und Körper, die vor unbezähmbarer Lust triefen. Da ist sich Marlies ganz sicher. Man muss nur genau hinsehen.
Marlies überlegt, ob sie sich zum Schreiben einen Computer kaufen soll. Aber das scheint ihr zu professionell. Außerdem würden bestimmt alle fragen, was sie mit einem Computer will. Und sie kann ja gar nicht damit umgehen. Ihr Cousin würde ihr das vielleicht zeigen. Sie bezweifelt jedoch, dass Ulf mit einem Computer noch etwas anderes anfangen kann, als mit Ballerspielen herumzudaddeln. Nein, also kein Computer.
Marlies sucht bei ihren Eltern auf dem Dachboden, dort müsste noch eine Schreibmaschine stehen. Sie findet: einen Kasten voller Lego, viele verstaubte Lampen, zwei paar Langlaufskier (sie hat ihre Eltern noch nie auf Langlaufskiern gesehen, auch niemanden sonst hier im Dorf), diverse orthopädische Geräte, die in Teenagerjahren zur Korrektur ihrer Haltungsschäden angewandt wurden, einen Stapel Mein-schöner-Garten- Hefte und, endlich, die alte Adler-Maschine. Es ist sogar noch ein Blatt Papier eingespannt. Probeweise tippt Marlies auf das E und das N und das D und wieder das E. ENDE . Das E klemmt, sie verstaucht sich fast den Finger. Auf dem Papier ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich braucht sie ein neues Farbband.
»Was machst du denn da oben?«, ruft ihre Mutter. Marlies wird sofort knallrot im Gesicht.
»Och, nichts«, ruft sie mit ertappt-piepsiger Stimme zurück. Sie hört, wie ihre Mutter beginnt, die wackelige Ausziehleiter zu erklimmen und greift sich schnell eins der Garten-Hefte. »Ich suche nur nach Anregungen ...«, sagt sie und steckt den Kopf in ein tiefrot leuchtendes Calla-Beet.
»Du kannst mir mal lieber beim Buchsbaum-Schneiden helfen«, befiehlt ihre Mutter.
Mit einer kleinen Gartenschere in der Hand schnippelt Marlies wenig später an der Buchsbaumhecke herum, die den Vorgarten der Eltern säumt. An den Ecken lässt sie kleine, rundliche Säulen stehen, die einen gewissen phallischen Charakter nicht verleugnen können. Marlies entwickelt ungeahnte Freude an der Handarbeit.
Also keine Schreibmaschine, überlegt sie. Lieber mit der Hand schreiben. Da ist erstens die Materialbeschaffung unverfänglicher – ein paar alte leere Schulhefte hat sie noch im Schrank liegen –, es lässt sich zweitens überall praktizieren (auch unauffällig unter der Bettdecke),
Weitere Kostenlose Bücher