Frischluftkur: Roman (German Edition)
macht nicht so viel Lärm und ist viel sinnlicher. Findet Marlies jedenfalls. Sie hat mal einen Artikel über Grafologie gelesen und seitdem stark an ihren Unterlängen gearbeitet, die viel über die Sexualität verraten sollen. Der Schwung von Marlies' kleinem g ist sehr ausladend, was angeblich einladend wirkt. Wenn sie bei Knurres Preisschilder schreiben muss, hält sie sich etwas zurück.
Marlies setzt sich auf ihr Sofa, zieht die Beine an, legt das erste Schulheft auf die Knie und schlägt es auf. Die Seiten sind kariert – leere Felder, die darauf warten, gefüllt zu werden. Das Koordinatensystem ihres Lebens soll sich hier entfalten. Marlies starrt auf die Seite. Die Seite starrt zurück. Jedes einzelne Kästchen grinst sie hämisch an: Was willst du denn? , scheinen die Quadrate ihr hämisch zuzurufen. Oh nein , denkt Marlies eingeschüchtert, jetzt muss ich mich schon von einem Schulheft beschimpfen lassen. Obwohl , überlegt sie sich dann, das war ja eigentlich gar keine Beschimpfung. Das war eine Frage. Die haben mich nur gefragt, was ich will. Der Ton war nicht gerade nett, aber Schulheftkaros haben vielleicht nicht so viel Sinn für Sprachmelodie. Ich sollte mich nicht einschüchtern lassen, denkt Marlies. Nicht von einem leeren Heft . Trotzdem springt sie erst mal auf und spitzt ihren Bleistift an. So bewaffnet traut sie sich und schreibt das erste Wort: Ich. Dann noch mal: Ich. Ich. Ich. Komisch, denkt sie, meine Hand zittert gar nicht. Ein wenig peinlich ist es ihr schon, sich so in den Mittelpunkt zu stellen. Aber die Kästchen sind ruhig, und es fühlt sich auch irgendwie gut an.
Marlies knibbelt ein wenig an dem Radiergummi, das am Bleistiftende befestigt ist. Ich könnte das ja wieder ausradieren. Hmm. Der Bleistift kommt ihr plötzlich so provisorisch vor. So vergänglich. So unangemessen. Sie steht auf, öffnet eine Schublade und findet ihren alten Pelikano-Füller und eine Packung Patronen. Sie lädt den Füller wie eine Waffe. Ihre Waffe. Ihre 45er Magnum. Jetzt fühlt sie sich sicher. Sie setzt sich hin und schreibt einfach los. Den ersten Satz. Den ersten Absatz. Die erste Seite. Noch eine. Und noch eine. Und zehn, zwanzig, dreißig weitere. Es ist, als würde die Sprache, die Marlies so lange wie einen kühlschrankharten Klotz Butter in sich aufbewahrt hat, anfangen zu schmelzen. Geschmeidig rinnt sie nun aus ihr heraus, manchmal so kochend heiß, dass es spritzt.
Marlies schreibt all das, was sie nie gesagt hat. Wie ein stimmgewaltiger Gefangenenchor versuchen sich die Worte zwischen den Gittern des Schulheftrasters Gehör zu verschaffen. Sie sind ein bisschen beleidigt, kommen sie doch vom Regen in die Traufe, von der stillen Marlies in das noch stillere Heftchen. Aber immerhin: Endlich mal raus!
Ihre freien Abende vergehen wie im Flug. Marlies schreibt über Demütigungen im Schulbus, misslungene Ablösungsversuche von ihren Eltern, Intrigen im Landfrauenverein. Und über Männer. Das gefällt ihr gut. Da rutschen die Unterlängen immer weit in die nächste Zeile.
In ihren kleinen, dreckigen Heften, wie sie ihr schriftliches Selbstbefreiungsprojekt nennt, hält sie sich nicht zurück. Mit nichts. Zunächst hat sie vor, das Ganze völlig autobiografisch zu halten. Doch dann merkt sie schnell: Dafür hat sie noch gar nicht genug erlebt. Das nicht so spannende erste Mal, dann fast was mit Rocco von der Raupenbahn – ach, Rocco, Marlies spürt immer noch dieses Kribbeln in Dick- und Dünndarm, wenn sie nur an ihn denkt – und beinahe etwas mit dem feschen Leutnant Müller-Meersack im Panzer. Nach diesen drei Szenen droht Marlies der Stoff auszugehen. Hmm , denkt sie, vielleicht reicht das jetzt mit der Selbstbefreiung, vielleicht ist es jetzt genug. Doch inzwischen ist das Schreiben für sie fast zu einer Sucht geworden. Das gefällt ihr noch besser als Lesen oder Tagträumen. In jeder freien Minute schreibt Marlies, schwungvoll lässt sie die Feder ihres Pelikano-Schulfüllers über das linierte Papier kreisen. Und das soll jetzt schon wieder vorbei sein? Nein! Marlies will weiter schreiben. Sie denkt nach: Es gibt vier Möglichkeiten:
Sie denkt sich Geschichten aus.
Sie erlebt etwas, das sie aufschreiben könnte.
Andere erzählen, was sie erlebt haben, und sie schreibt es auf.
Sie beobachtet andere dabei, wie sie etwas erleben, das sie dann aufschreibt.
Zunächst versucht sie es mit Punkt eins. Doch das Ergebnis ist unbefriedigend: Zu sehr ähneln die Geschichten den billigen
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