Frischluftkur: Roman (German Edition)
sich tief in ihrer Intimsphäre getroffen. Aber auch erkannt und verstanden. Das zugeben? Niemals! Höchste Empörung ist der gesellschaftlich anerkannte Gefühlsausdruck.
»Authentisch? Von wegen!«, widerspricht Helma der Referentin. »Ich habe niemals solche Dinge getan oder gesehen oder auch nur gedacht. Und ich kenne niemanden, bei dem das der Fall wäre! Das ist doch hochgradig unrealistisch!« Sie ärgert sich maßlos über den Vortrag. Den hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Sie hatte gehofft, dass das Buch niedergemacht und Anstand und Sitte wiederhergestellt würden.
»Was meinen Sie mit solche Dinge?« , fragt die Referentin.
»Ähm ... na ja, Sex«, antwortet Helma, erbost über die Frage.
»Das ist schade für Sie. Trotzdem könnte es sein, dass die Autorin direkt neben Ihnen sitzt.«
Die zweite Vorsitzende schaut zur Seite. Da sitzt die erste Vorsitzende, die entsetzt mit dem Kopf schüttelt. Sie schaut zur anderen Seite. Da sitzt Monique, die schüttelt auch mit dem Kopf, wird aber knallrot. Sie hat sich in einer Szene wiedererkannt, in der es um einen akrobatisch anspruchsvollen Liebesakt auf der Rückbank eines Kleinwagens ging. Helma ahnt so etwas und überlegt kurz, ob Monique vielleicht ...? Nein. Sie verwirft den Gedanken.
»Das ganze Buch ist völlig unrealistisch. So etwas macht doch niemand!«, behauptet sie und schaut Zustimmung heischend in die Runde. »Wie seht ihr das?«
Die letzte Frage war an die Allgemeinheit der Landfrauen gerichtet, deshalb tun alle so, als wären sie nicht gemeint. Man sieht zu Boden oder an die frisch verputzte Decke, betrachtet interessiert das Regal mit den blank polierten Pokalen oder die durchlöcherten Scheiben mit den naturalistischen Wildschwein-Motiven. Natürlich denkt jede, sie wäre die Einzige, die sich in dem Buch wiedererkannt hat. Und das wird auch erst mal so bleiben, denn keine würde diese Erkenntnis der anderen preisgeben. Höchstens im Rausch, mit von Schwarzer Sau (Wodka mit Lakritze) oder Korn mit Maggi gelockerter Zunge – also frühestens beim nächsten Schützenfest oder der Junggesellenversteigerung.
In der allgemeinen Betretenheit fällt Marlies, die selten jemandem direkt ins Gesicht sieht, nicht weiter auf. Nur Tina beugt sich zu ihr hinüber und flüstert: »Wenn eine aus dem Dorf das Buch geschrieben hätte, dann wüssten wir das. Uns entgeht doch nichts! Obwohl: Das eine oder andere kommt mir schon sehr bekannt vor ... Na ja, das alte Rein-raus-Spiel eben. Das gibt es wohl überall.«
Marlies zupft nervös an ihren Ponysträhnen, um den Schriftzug Ich war's! , der mit Sicherheit auf ihrer Stirn in roter Leuchtschrift vor sich hin blinkt, zu verdecken, und nickt zurückhaltend. Aber sie wäre wahrscheinlich die Allerletzte, die man verdächtigen würde.
Nach dem Vortrag stehen die Landfrauen in kleineren und größeren Grüppchen beieinander. Natürlich redet keine von ihnen über das Buch. Dafür macht ein anderes Thema die Runde: Bei den Frauen werden die als Managerseminar getarnten Männerumerziehungsprogramme immer beliebter. Eine nach der anderen meldet ihren Gatten an.
Inzwischen erzählen sogar die Männer ihren Freunden davon und schieben sich gegenseitig freie Termine zu, wie die vier Freundinnen es mit ihren Überwachungskameras beobachtet haben. Die Freiwillige Feuerwehr scheint ein Hauptumschlagplatz für Seminarplätze zu sein, denn dort schätzt man Fortbildung und Disziplin. Selbst Hauptbrandmeister Sörens hat schon teilgenommen.
»Ich halte nichts davon«, sagt Elsbeth Merkens aus dem Häkelkreis zu einer Landfrau, die gerade überlegt hat, ob sie nicht auch ihren Sohn anmelden kann. Der ist zwar bei der Freiwilligen Feuerwehr, betrinkt sich vorschriftsmäßig einmal im Monat mit Freunden und hilft seiner Mutter nie im Garten, so wie man es von einem anständigen jungen Mann erwarten kann. Aber er bringt nie eine Freundin mit nach Hause. Und statt des Pamela-Anderson-Posters, das ihm seine Feuerwehrkollegen zum Geburtstag geschenkt haben, hat er einen Kalender der New York Firefighters aufgehängt. »Überleg dir gut, ob du das wirklich machen willst.«
»Aber alle machen es«, sagt die besorgte Mutter bockig. »Und mein Mann ist ein Schatz, seit er wieder zurück ist. Genau so, wie ich ihn mir immer gewünscht habe.« Sie wirft einen Blick zur Seite und setzt ein ebenso honigsüßes wie falsches Lächeln auf. »Ach ja, Wilma, das sind so die Probleme, die man als verheiratete Frau hat. Vielleicht
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