Frischluftkur: Roman (German Edition)
den da kauft, dann fällt das auf. Nein, es muss schon was Unauffälliges sein. Unterwäsche ist gar nicht so schlecht. Aber ganz teure, edle. Marlies streckt sich bei dem Gedanken, dass etwas so Feines, Zartes, Kostbares ihre Haut berührt.
»Bist du gewachsen, Kind?«, fragt ihre Mutter. »Du siehst heute so groß aus.«
»Ein Sitzriese«, grummelt ihr Vater mit vollem Mund. »Im Stehen macht die wieder nüscht her.«
Marlies sagt nichts. Sie fühlt sich stark. Innerlich.
Ihr werdet sehen , denkt sie, irgendwann stehe ich auf und bin wirklich groß. Dann werden alle zu mir aufschauen. Reich werde ich auch. Fünfundsiebzigtausend Euro, das ist immerhin schon ein Anfang.
11. Kapitel:
Der neue Heinz
Dienstag, 16. August
Inez von Gravenberg lächelt zufrieden. Sie knipst ihre Schreibtischlampe an und wieder aus. Und wieder an und wieder aus. Sie bewundert die gelungene Form der Glühbirne. Nicht so ein hässlicher Stab wie diese fiesen Energiesparleuchten, die dreist aus jeder Lampe hervorgucken und so den Gesamteindruck stören. Nein, dieser Leuchtkörper ist dezent und harmonisch gerundet.
Sie knipst die Lampe wieder ein und aus. Sie könnte es immer und immer wieder tun. Sie könnte die Lampe auch an- und niemals wieder ausschalten. Die würde einfach immer weiter leuchten, bei minimalem Energieverbrauch. Ihrer Forschungsabteilung ist es gelungen, die ewige Glühbirne zu entwickeln. Schade , denkt Inez von Gravenberg, schade, dass dieses entzückende Wunderwerk nie in Produktion gehen wird. Aber man muss betriebswirtschaftlich denken. Man muss sich die Kundschaft erhalten. Wer erst mal alle seine Lampen mit der ewigen Glühbirne ausgerüstet hat, braucht dann nie wieder eine neue. Zumal der Dauerbrenner auch robust, nahezu unverwüstlich ist. Inez von Gravenberg weiß, dass sie kurzfristig viel Geld damit verdienen könnte. Aber das lockt sie nicht, denn reich ist sie schon. Ein ganzes Marktsegment würde für immer und ewig zerstört werden. Und das kann und will Inez von Gravenberg nicht verantworten. Als Chefin eines internationalen Mischkonzerns muss sie auch an die Zukunft des Unternehmens denken. Deshalb hat sie nur eine kleine Testserie herstellen lassen, für den eigenen Bedarf in der Firmenzentrale.
Bei einem anderen Projekt – ihrem aktuellen Lieblingsprojekt – hat sie weniger Skrupel. Sie will das größte europäische Wellness-Zentrum bauen. Mit Golfplatz, Boutiquenmeile auf der einen und Designer-Outlet-Stores auf der anderen Seite, historischem Ortskern, überdachter Tropen- und Pool-Landschaft, rundum verglaster Biosphärenschauwelt und, und, und ... Nichts, aber auch gar nichts soll fehlen. Es wird wunderbar werden! Eine eigene, perfekte Welt, in der sich jede Frau wohl fühlt. Wie ein Phoenix wird sich die schöne neue Welt aus der Asche ihrer verhassten Vergangenheit erheben.
Mümmel hoppelt durch das Modell des Wellnesstraums. Er lässt ein paar Hasenködel in der Pool-Landschaft fallen und findet eine Möhre im Gucci-Outlet.
»Ja, mein Süßer, das gefällt dir, nicht wahr?«, säuselt Inez von Gravenberg.
***
»Guck mal, da drüben«, sagt Tina.
Petra sieht in die angegebene Richtung. »Da sitzt Oma Ellerbrock und häkelt«, sagt sie. »Und?«
»Ich meine doch nicht die Ellerbrock – sondern den Mann!«
Petra sieht noch einmal genauer hin. Und tatsächlich: Ein Mann in schwarzem Anzug schreitet den Rasenstreifen eines nicht bebauten Geländes ab und macht sich Notizen auf einem Klemmbrett. »Dass du aber auch nichts anderes als Kerle im Kopf hast«, rügt sie ihre Freundin grinsend.
»Wie?« Tina schüttelt erstaunt den Kopf. Dann begreift sie. »Ach so ... nein, das meine ich nicht. Wobei – der sieht schon ganz schnuckelig aus. Aber darum geht es nicht. Ich kenne den nicht. Du?«
»Nö. Na und?«
»Wie viele Männer gibt es hier im Dorf, die wir nicht kennen?«
Petra überlegt. Also, schon so ein paar ... oder? »Hmm ...«, macht sie. »So viele sind das wirklich nicht. Aber jetzt, wo du's sagst: Mir sind in den letzten paar Tagen immer wieder Leute aufgefallen, die hier wohl neu sind.«
»Und das findest du nicht merkwürdig?«, will Tina wissen.
»Ich glaube, die Operation Frischluftkur steigt dir langsam zu Kopf«, vermutet Petra. »Wir sind hier immer noch im Dorf, nicht bei Akte X.«
Auch anderen fällt auf, das etwas vor sich geht. Im Dorf laufen neuerdings überall geschäftige Herren umher und vermessen Straßen und Plätze. Man wundert sich erst, aber auf
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