Frischluftkur: Roman (German Edition)
überall dabei sein, zumindest in ihrem Revier.
»Tu doch bitte etwas, damit die Damen hier nicht ständig im Weg rumstehen und mir in die Aufnahme quatschen«, bittet der Regisseur eine Produktionsassistentin. Kurz darauf verteilt diese Zettel an die Schaulustigen: Großes Casting! Wir suchen Statisten und Kleindarsteller für eine Schützenfest-Szene. Bitte erscheinen Sie in Festtagskleidung, möglichst mit aufwendigem Makeup, am Sonnabend um 16.00 Uhr im Schützenhaus .
»Gute Idee!«, flüstert der Regisseur. Seine Nerven flattern.
Seine ersten beiden Filme waren wahnsinnig erfolgreich. Er wurde schon fast als der neue Fassbinder gehandelt. Das Feuilleton druckte Lobeshymnen. Bis zu seinem dritten Film. Der war ein Flop. Ein gigantischer, Geld und Ruhm vernichtender Flop. Er hatte sich einen alten Traum erfüllt und einen Historienfilm gedreht. Tolle Kostüme, seine damalige Freundin, die in allen Filmen die Hauptrolle spielte, sah in den geschnürten Korsagenkleidern sensationell aus. Ihm stockt jetzt noch der Atem, wenn er nur daran denkt. Aber, das weiß er inzwischen selbst, er wollte zu viel mit diesem Film. Herausgekommen ist ein dreistündiger Bombast-Schinken, der in Kitsch und Selbstgefälligkeit ertrinkt , wie eine große Tageszeitung ätzte. Alles, was er an subversiver Gesellschaftskritik eingebaut hatte, wurde entweder übersehen oder falsch gedeutet. Er fiel in ein tiefes, tiefes Loch.
Das Angebot, Die Steckrübe zu verfilmen, kam ganz überraschend. Er nahm es sofort an – und weiß: Das ist seine zweite Chance. Seine letzte Chance. Der Film muss genial werden, ein Meisterwerk. Wie das Buch. Er ist völlig fasziniert von dem Roman, fühlt sich an seine Kindheit und Jugend erinnert und kann sich sogar in die weibliche Hauptfigur hineinversetzen. Beim Lesen hat er alles um sich herum vergessen – ein Gefühl, dass er schon längst vergessen hatte.
Doch nun steht er unter Druck. Er möchte einfach nur in Ruhe drehen. Aber da sind diese Frauen, die überall im Dorf rumzustehen scheinen und ihn anschmachten. Er muss sich wirklich zusammenreißen, um nicht aus Versehen den Satz, den er bei Schauspielern so oft gehört und nie ertragen hat, zu sagen: »Ich kann so nicht arbeiten!«
Bin ich eine Diva? , fragt er sich und zwirbelt seine dunklen Haare, die daraufhin vom Kopf abstehen. Insgesamt sieht er aus wie eine ungemähte Wiese: Verwuscheltes Haar, unregelmäßige Bartstoppeln, die Nase groß wie ein gefällter Baum, die Augen wie zwei idyllische Tümpel, entengrützengrün, der Mund einladend wie eine Hängematte. Sein Körper schlaksig wie eine Kornblume, biegsam wie ein Grashalm. Was ihm vollkommen fehlt ist das Raubeinige eines Naturburschen, er ist etwas blass und feingliedrig.
»Aber warum denn Festtagskleidung und aufwendiges Makeup?«, fragt er.
»Damit die Damen schön lange im Bad und vor dem Kleiderschrank beschäftigt sind. Außerdem interessieren sie sich dann vielleicht mehr dafür, wie die anderen aussehen. Das lenkt auch wieder von uns ab«, erklärt die Produktionsassistentin und streicht sich grinsend über den geschorenen Kopf. Eitelkeit ist ihr fremd, aber sie weiß, dass sie damit ziemlich allein ist.
Ihr Plan funktioniert: Wenig später sind die Straßen des Ortes menschenleer. Moniques Beauty-Salon ist ausgebucht, die Termine wurden in kürzester Zeit auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Summen gehandelt. Im Modehaus Redeker ist der Modeschmuck ausverkauft. Alles was funkelt und glitzert ist weg. Auch die Stangen mit den Abendkleidern sind leer. Frau Redeker befürchtet aber, dass die Roben nach dem Casting schnell den Weg zu ihr zurückfinden, denn alle wurden unter dem Vorwand »nur mal so zur Anprobe« mitgenommen. Sie ärgert sich schon über ihre Großzügigkeit, aber was soll man machen? Schließlich kann sie es sich nicht leisten, ihre Kundinnen zu verprellen.
***
Marlies wollte eigentlich nicht zum Casting. Aber sie hat sich von Hanna, Tina und Petra überreden lassen. Und sie hat Angst bekommen, dass jemand Verdacht schöpft, wenn sie die Einzige ist, die sich nicht um eine Statistenrolle bemüht. Also zieht sie ihre neue, teure Unterwäsche an und ihr Kleid mit den Punkten, tupft etwas Gloss auf die Lippen und nimmt sich vor, diese zusammenzupressen, denn mit offenem Mund sieht sie auf Fotos scheußlich aus (und auf Film erst recht) – eine Erfahrung, die sie schon zu oft machen musste. Überhaupt lässt sie sich nicht gerne fotografieren oder filmen. Das
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