Frischluftkur: Roman (German Edition)
dem Weg nach Hause an dieser Stelle vorbeikommt, radelt er davon.
»Ach nein, das Flickzeug, daran habe ich ja gar nicht gedacht«, ärgert sich Tina, als sie ihren missglückten Kupplungsversuch auf dem Bildschirm beobachtet.
»Na, wenigstens ist nichts Schlimmes passiert«, atmet Hanna erleichtert auf.
»Ich probiere es einfach noch mal.«
Am nächsten Tag präpariert sie nicht nur den Reifen, sie entfernt auch das Flickzeug und alles, was Werkzeug ähnlich sieht.
Thomas entdeckt den Platten, findet sein Flickzeug nicht, wundert sich ... und lässt sich von Zitterkalle mitnehmen, der zufällig mit Trecker und Anhänger vorbeikommt.
Tina tobt.
»Sonst kriegt Zitterkalle doch auch nichts auf die Reihe, aber hier den barmherzigen Samariter spielen!«, regt sie sich auf.
»Du bist doch nur sauer, weil er dir den schönen Plan vermasselt hat«, grinst Petra.
»Gut, dass nichts passiert ist«, sagt Hanna.
Tina probiert es noch einmal. Thomas schiebt das Rad nach Hause zu seiner Großtante. Einfach so. Scheint ihm gar nichts auszumachen. Und Kai hat ausgerechnet an diesem Nachmittag eine spontan angesetzte Feuerwehrübung.
»Ich glaube, du musst das irgendwie anders anpacken«, sagt Petra.
Tina nickt. Langsam glaubt sie das auch. »Vielleicht ein klitzekleiner Unfall?«, fragt sie in Richtung Hanna.
»Nein, auf keinen Fall!« Hanna bleibt streng.
»Infostand!«, murmelt Marlies. Die anderen schauen sie fragend an. »Kai macht doch gerne Infostände zum Thema Sicherheit im Straßenverkehr.«
»Das ist super!«, jubelt Tina. »Ich werde ihn mit Informationen über die Notwendigkeit des Tragens von Fahrradhelmen versorgen und ihn dann einen Stand an der Strecke aufbauen lassen, die Thomas immer nimmt.«
»Mitten in den Wiesen? Am Feldrand? Das macht der nie!«, glaubt Petra.
»Wenn der Auftrag von Ortsbrandmeister Sörens kommt, dann schon. Ich fädele das ein«, sagt Tina.
Drei Tage später baut Kai seinen selbst gezimmerten Infostand auf dem staubigen Feldweg auf. Er glaubt, das sei ein Testlauf für Du & Deine Welt , und wenn er gut ist, darf er im nächsten Jahr bei der Messe dabei sein – als Aussteller. Ein paar Fahrradhelme hat er auch dabei, eine Firma hat ihm überraschend angeboten, ihn damit auszustatten. Tina hat an alles gedacht (und Edith ein bisschen unter Druck gesetzt).
Nun steht er da und wartet. Niemand kommt. Aber Kai ist geduldig. Zwei Herren von der Oberflächenentwässerung gehen vorbei.
»Hallo, Sie, entschuldigen Sie bitte, dürfte ich Sie kurz über Sicherheit beim Fahrradfahren informieren?«, fragt Kai.
Die Herren gucken streng. »Siehst du hier irgendwo ein Fahrrad?«, fragt einer zurück.
Muss ja nichts heißen. »Nein, aber ...«
»Nichts aber!«, herrscht ihn der eine Mann an. Unangenehme Zeitgenossen. Kai gibt auf und lässt sie weitergehen.
Ein Mädchen, circa zehn Jahre alt, radelt vorbei. Sie ist auf dem Weg zum Ponyhof und trägt schon ihren Reithelm. Die ist gut ausgerüstet, da besteht kein Beratungsbedarf. Kai seufzt und setzt sich neben seinen Stand. Er kommt sich ein wenig dämlich vor, hier mitten in der Pampa Beratungsgespräche führen zu wollen. Überhaupt, diese ganzen Verkehrssicherheitssachen gehen ihm manchmal ziemlich auf die Nerven. Aber was soll er machen? Er braucht etwas, für das er anerkannt wird. Für ihn als einzigen bekennenden Homosexuellen ist es hier im Dorf nicht leicht. Offiziell hat natürlich niemand ein Problem mit ihm. Und nach einem Jahr hat sich sogar der erste Kamerad von der Freiwilligen Feuerwehr wieder mit ihm unter die Dusche getraut. Aber das ist keine Akzeptanz, nur ein Hinnehmen. Oder sogar noch weniger. Die meisten Leute hier blenden die für sie unliebsame Information einfach aus. Bestes Beispiel: seine Mutter. Die versucht immer noch, ihn an die Frau zu bringen. Und manchmal, wenn er sich einsam und allein fühlt, denkt Kai fast, dass das die beste Lösung wäre. Dann würde dieser stumme Druck, der von allen Seiten auf ihn einwirkt, weichen. Dann würden ihn die Leute endlich akzeptieren. Zwar nicht so, wie er ist ... aber so, wie sie ihn haben wollen.
Kai muss an dieses Lied denken, I am what I am von Gloria Gaynor. It's my world / That I want to have a little pride in / My world / And it's not a place I have to hide in , singt sie. Ach ja? Kai merkt, wie sein Hals eng wird, als würde ihm jemand eine Schlinge darum legen. Frau Gaynor hat offensichtlich nie in einem Dorf gelebt.
Eine halbe Stunde passiert gar
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