Frischluftkur: Roman (German Edition)
Gut sieht sie aus, nicht so übertrieben aufgerüscht wie die anderen, die im Dorf herumlaufen. An ihr ist nichts ausladend und nichts einschüchternd. Ihre Brüste wogen nicht beim Gehen, sondern bleiben an Ort und Stelle. Ihre Haare sehen nicht aus, als würden sie nach Weltherrschaft oder zumindest einer eigene Karriere streben. Alles an ihr, von den blassblaugrauen Augen bis zu den mittelgroßen Füßen, ist unauffällig – und das fällt dem Regisseur angenehm auf.
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Marlies steht direkt vor ihm. Er sieht sie an. Sie sieht ihn an. Und dann den Boden. Gras, über das schon viele Kabel gezerrt wurden. Bisschen mitgenommen. Sehr interessant. Jetzt könnte langsam mal jemand etwas sagen.
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Wieso sagt sie eigentlich nichts , fragt sich der Regisseur und forscht weiter in ihrem ruhigen, schönen Gesicht. Vielleicht ist sie stumm?
»Sie wollten mir doch zeigen, wie Sie sich die Szene vorstellen«, unterbricht der Schauspieler das Schweigen.
»Ach ja, richtig«, fällt dem Regisseur wieder ein. »Würden Sie mir freundlicherweise dabei assistieren?«, fragt er.
Klar, denkt Marlies und versucht, die Erinnerung an Rocco zu verdrängen. Da passiert schon nichts Schlimmes, ist ja nur Film, ist ja nicht echt , sagt sie sich, nickt und klettert in den Wagen der Raupenbahn.
Die Lichter flackern. ABBA singen The winner takes it all. Das Karussell beginnt sich zu drehen.
Ich habe gar keinen Fahrchip , denkt Marlies, so realistisch wirkt das plötzlich alles.
Der Regisseur stellt sich an den Fahrbahnrand und verflucht seine Idee, die Szene vorzuführen. Wie zum Teufel soll ich da bloß aufspringen? Er erinnert sich an schreckliche Turnstunden, in denen er mit beiden Schienbeinen gegen den hölzernen, oben mit Leder notdürftig gepolsterten Kasten geknallt ist, den die anderen scheinbar mühelos mit einem Hocksprung überwanden.
Er überlegt, ob er Anlauf nehmen soll und trippelt von einem Bein auf das andere, als würde er sich gleich in die Hose machen. Der Schauspieler, der sich lässig ans Geländer gelehnt hat, kichert albern. Marlies' Haare wehen im Fahrtwind.
Der Regisseur gibt sich einen Ruck, das heißt, er wirft sich nach vorne und landet auf der Raupenbahn. Nicht auf dem Wagen, in dem Marlies sitzt, sondern zwei daneben, aber immerhin. Vorsichtig hangelt er sich zu Marlies hinüber, die inzwischen auch nicht sicher ist, ob es wirklich eine gute Idee war, hier mitzumachen. Alles wiederholt sich und sie weiß schon, dass der Regisseur gleich auf die Bretter knallen wird, das ist eben ihr Schicksal und sie kann es nicht ändern, egal, wie viele Bücher sie heimlich schreibt. So ist das eben mit dem Leben: Es gehorcht ihr nicht und ist immer wieder enttäuschend.
Doch dann sieht Marlies in das unter den Bartstoppeln sehr blasse Gesicht des Regisseurs, sieht, wie sich seine Nase gegen den Wind reckt und wie seine gezwirbelten Haarbüschel tapfer den Turbulenzen standhalten und schöpft Hoffnung. Er wird es schaffen , denkt sie und versucht, ihm diese Gedanken telepathisch zu vermitteln. Zwar hat sie bislang keine übersinnlichen Fähigkeiten bei sich bemerkt, aber man kann es ja mal versuchen.
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Eventuell von Marlies' Gedanken gehalten, wahrscheinlich von seinen doch recht kräftigen Händen, gelingt es dem Regisseur, den Wagen, in dem sie sitzt, zu erreichen. Dann versucht er, um den Schauspieler, der immer noch blöde vor sich hin giggelt, eine Ahnung der Tragweite der Rolle zu geben, mit seinem Gesichtsausdruck die geschniegelte Verführungskunst eines jungen Mannes zum Mitreisen darzustellen, der noch an seine Unwiderstehlichkeit glaubt.
Die Frau ist gut, die ist etwas ganz Besonderes , denkt der Regisseur. Plötzlich durchzuckt ihn ein Gedanke wie ein Blitzschlag: Vielleicht ist sie sogar die geheimnisvolle Autorin der Steckrübe? Er hat da so eine Ahnung, ein vages Gefühl und das wäre ja – WOW!
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Marlies guckt verwirrt. Warum schneidet der Mann plötzlich so komische Grimassen? Doch da besinnt er sich schon und entspannt seine Gesichtszüge (die Hände bleiben weiterhin etwas verkrampft). Sie fahren zwei, drei, vier Runden, Auge in Auge, und Marlies fühlt sich mächtig, als würde sie die Welt lenken und die Geschichte neu schreiben können. Dieser Mann wird nicht vom Karussell stürzen, dieser Mann wird sich etwas länger in ihrem turbulenten Leben halten können, beschließt sie.
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Marlies und der Regisseur sind so vertieft ineinander, dass sie nicht bemerken, dass sich der
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