Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
Schlückchen vom Cappuccino. »Die Mischung von beidem ist unschlagbar«, sagte sie. »Hier in diesem Aktenkoffer ist alles, was ich habe, damit Sie mir helfen können«, kam sie dann unvermittelt zum Thema. »Sie müssen Martha Klein finden. Sie arbeitete in Berlin beim p olizeiärztlichen Dienst als Psychologin. Sie ist verschwunden. Sie ist eine harte und kompromisslose Frau. Sie lebte als kleines Kind in Heimen und kannte ihre Eltern nicht. Sie verfolgte und drangsalierte Flüchtlinge, als drangsalierte sie sich selbst und ihre eigene kümmerliche Vergangenheit. Sie hat bestimmt viel mitgemacht. Sie lebte als Jugendliche später in Berlin bei Pflegeeltern. Ich lasse Ihnen den Aktenkoffer hier und Sie schauen sich die Sache an.« Sie nippte wieder am Amaretto und nahm eine Mundspitze vom Cappuccino dazu. Sie sog die Mischung mit einem leisen Schlürfer auf die Zunge und ließ sie zergehen. »Einfach köstlich«, freute sie sich. Diese Mischung gemeinsam mit ihr auf der Zunge zergehen lassen, dachte ich. Sie grinste. Konnte sie Gedanken lesen? »Es ist alles ziemlich verwickelt. Martha Klein ist nur ein Teilchen. Nach meiner Einschätzung. Kein unbedeutendes, aber nur ein dienendes. Aber Sie haben ja Erfahrung mit verwickelten Dingen, wo nichts zum andern passt. Tja, dann gehe ich mal wieder. Sie werden von mir hören. Das heißt, hier habe ich noch was.« Sie schaute auf den gelben Lederkoffer und nippte ein letztes Mal vom Amaretto samt der dazugehörigen Prise Cappuccino. Ganz feiner Schaum zierte ihre Oberlippe, den sie mit einem Zungenwischer wegschleckte.
»Wieso laufen Sie mit diesem Riesenkoffer durch die Gegend?«, fragte ich.
»Eben. Keine Ahnung«, sagte sie kokett. »Der ist mir zugelaufen. Er wurde mir bei der Gepäckabgabe samt meinem Aktenkoffer zurückgegeben. Ich protestierte. Doch, doch, das ist Ihr Koffer. Aber nein! Aber doch! Aber wieso denn? Hier, bitte, Ihr Gepäckschein. Ist es Ihr Koffer? Na? In der Tat! Mein Koffer! Na also! Bei uns geht nichts verloren, junge Frau! So kam ich zu diesem Koffer.«
Sie schaute auf den Koffer wie auf einen zugelaufenen Hund. »Ich finde das merkwürdig. Da hängt mir jemand einen rindsledernen Koffer an den Hals. Wissen Sie was? Ich überlasse den Koffer Ihnen! Mir ist er zu schwer. Freuen Sie sich! Vielleicht ist was Schönes drin. Es gibt Leute, die sind ganz wild auf verlorene Koffer. Die gehen dafür auf spezielle Versteigerungen. Das ist wie Schatzsuche.« Sie lachte und stand auf. Ich erhob mich ebenfalls. »Warten Sie«, sagte ich, »ich brauche etwas mehr Informationen. Das ist ja wie ein Überfall. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer Sie sind.« »Das ist auch gut so.« Sie wurde mit einem Mal ernst. »Hören Sie, Fritz Neuhaus, ich weiß, dass ich Ihnen einiges zumute. Hübsche unbekannte Frau steuert morgens mit gefundenem Koffer auf Fritz zu, I need you, help me, sagt sie, er ist hingerissen von ihr. Das sind Sie doch?«, flirtete sie jetzt geradezu aufreizend. » k nallt ihm einen Aktenkoffer unter die Nase und verschwindet wieder mit dem Auftrag, eine Frau zu finden.« Sie machte eine Pause. »Ich zumindest finde das romantisch, alles Unvorhergesehene, Sie doch auch?«, flirtete sie immer noch und warf mir einen Blick zu, bei dem ich am Rande der Ohnmacht schwebte. »Passen Sie gut auf sich auf. Und lassen Sie auf jeden Fall die Polizei aus dem Spiel. Egal, was passiert. Ach, übrigens, der Koffer heißt Nardini und logiert im ›Esplanade‹. Bewahren Sie ihn für mich auf. Ich hole ihn bei passender Gelegenheit bei Ihnen ab. Ich gehe jetzt.« Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange und gab mir einen leichten Klaps auf den linken Arm. Dann machte sie kehrt und stöckelte den Stuttgarter Platz hinunter, so, wie sie gekommen war. Ohne sich noch einmal umzudrehen, wurde sie wieder zum kleinen Punkt, diesmal ohne Koffer, ihre brandroten Haare leuchteten nur noch ganz schwach in der Sonne, um dann ganz zu erlöschen. Ich stand immer noch neben dem Koffer und wusste nicht, wie ich diese Trennung aushalten sollte – so empfand ich es, obwohl ich mit dieser Frau nicht das Geringste zu tun hatte. Die Sehnsucht zerriss mich schon jetzt. Immer wieder. Als wäre es das erste Mal, wenn es geschah. Nie wusste ich, was Sehnsucht ist.
Jean hatte endlich wieder seine Krebse eingesammelt. »Heißer Feger«, sagte er. »Wieso lässt du die so schnell wieder gehen?«, fragte er.
»Sie ging einfach.«
»Da wäre ich einfach mitgegangen«, sagte Jean.
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