Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
er zerstörte, aufkaufte, sich unter den Nagel riss, macht mit den gleichen korrupten Methoden, was seine Gegner tun: plündern, ausbeuten, vermehren. Ein Global Player, der nie zur Ruhe kommt, ständig auf der Flucht vor sich selbst.« Sie hielt inne und sah mich belustigt an. »Ich komme mit festen Absichten zu Ihnen. Sie sind mein Mann.« Sie hatte meine geheimen Verschlusssachen beschrieben. Sie verblüffte mich. Ich hielt mich ja für unsichtbar. Zumindest zu Teilen. Betrat jemand diesen Bereich, machte ich das steinerne Mondgesicht. Ich dachte an dünne Sicheln, die in den Nachthimmel schnitten. Scharf und spitz, ritschratsch, sensten sie im raschen Schwung von rechts nach links, ritschratsch, immerzu, die Nachtschäfchen im falschen Pelz weg. Schlitzten ihnen das Fell auf, legten den Wolf frei oder die Wölfin. Ich wusste, wie es ist, wenn die tollsten Sachen mich wider Willen unters Joch nahmen. Das ging niemanden etwas an. Nicht einmal mich. Ich hatte es in mir weggesperrt. Es führte ein wölfisches Eigenleben, dem ich möglichst unbeteiligt beiwohnte. Ein Ich im Ich, zu dem ich nicht › Du ‹ sagte. Jemand, der die Drecksarbeit für mich erledigte.
Sie fuhr fort. »Er verdient viel Geld damit, er ist ein Meister des Puzzles, des Aufspürens von Bruchstücken, des Zusammenfügens, des Herstellens von Zusammenhängen, die keiner vermutet; er ist einer, der sagt, das Interessante an der Korruption und der Gemeinheit ist nicht sie selbst, sondern das, was sie verbirgt. Die Fratze hinter dem Glamour ans Licht zerren. Dann erst lässt sie uns los. Oder wir kommen nie zur Ruhe und können uns bestenfalls betäuben. Fritz Neuhaus, der Anwalt und Bankier der Armen, Flüchtigen, Unterdrückten und Gestrandeten. Ich kenne Ihre Aufsätze.« Der Spott war unüberhörbar.
War das schon der Anfang vom Ende? Meine Freude zerbröselte. Warum nicht einfach mal die kleinen Sachen machen, die heiteren am Wegesrand, dachte ich und wusste, dass es kein Ende war, aber auch kein Anfang. Einfach den Koffer von ihr nehmen. »Ich habe lange auf dich gewartet, ich wusste, dass es dich gibt, die ganze Zeit. Komm, wir gehen«, sagte ich, und dann gingen wir, und der Koffer schlug mir gegen das Bein, und ich umfasste sie mit dem anderen Arm, tauchte mein Gesicht in ihr Haar und wäre am liebsten nie angekommen. Immer und ewig die Straße runter ohne anzuhalten. Nie ein Ende. Immer nur Anfang. Schritt für Schritt.
Jean hatte einen Korb voll lebender Krebse fallen lassen. Der Korb zerplatzte. Die Krebse krabbelten in alle Richtungen davon, die Zangen zwickten wahllos in die Luft, Tangreste hingen an ihnen, mit steilen Stielaugen suchten die Krebse das Meer. »Verfluchter Mist«, schimpfte Jean und begann, zwischen den Stühlen herumzukriechen, um die Krebse einzusammeln.
»Was verschafft mir das Vergnügen Ihres Interesses an meiner Person?«, fragte ich die Rothaarige, anstatt ihren Koffer zu nehmen und mit ihr ins Glück zu spazieren.
»Sie machen ein Gesicht, als wollten Sie mir ein Messer durchs Gesicht ziehen. Dabei habe ich nur Gutes mit Ihnen vor.« Sie nahm den Aktenkoffer und stellte ihn vor mich auf den Tisch. Die Kante des Aktenkoffers war in Augenhöhe. Wir betrachteten uns wie über die Barriere im Besucherraum eines Gefängnisses, Auge in Auge. Jean suchte immer noch Krebse und kroch mir fast zwischen den Beinen herum. Jean hatte eine Art Seehundschnurrbart, schon reichlich zerfranst, der sehr gut zu den Krebsen passte. Aber warum kroch er ausgerechnet jetzt? »Schau dir mal dieses Biest an«, sagte Jean unter dem Nebentisch und hielt einen Krebs hoch. Ich konzentrierte mich auf die Augen vor mir knapp über der Kante. Bestimmt beschlug sich der Aktenkoffer auf ihrer Seite durch den Atem, so wie meine Seite sich beschlug. Ich malte mit dem spitzen Zeigefinger ein Herz in den hauchdünnen Atemdunstfilm. Ich kam mir nicht einmal lächerlich vor. Sie hatte mich in der Tasche. Es war grotesk. Mit einer schnellen Bewegung legte sie den Aktenkoffer beiseite. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast von Angesicht zu Angesicht. Sie lehnte sich zurück. »Ich glaube, ich nehme noch einen Cappuccino«, sagte sie, »mit einem Amaretto.« Ich bestellte bei Doris und nahm das Gleiche. Wir schwiegen, bis Doris die beiden Cappuccinos und Amaretti brachte. Sie roch an dem Amaretto. »Er riecht so gut. Riechen reicht eigentlich schon.« Sie nippte am Glas und trank gleich darauf mit spitzem Mund ganz knapp am Rand der Tasse ein
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