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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Blaue, was ich hier veranstaltete, mal sehen, was passierte. Vielleicht war das Bild ja mit einer Nummer kombiniert. Ich ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Ich hatte gerade die Bohnen in die Kaffeemühle geschüttet, als das Handy flötete. Irgendein Zwitschern. Ich nahm ab. Außer Atmen war nichts zu hören.
    »Wer ist da?«, fragte ich, »hier ist Nardini. Was ist mit der Rothaarigen?« Der Teilnehmer am anderen Ende verweigerte die Antwort und legte auf. An die Polizei dachte ich nicht mehr. Die würde nur dumme Fragen stellen, die ich nicht beantworten konnte. Ich öffnete den Aktenkoffer. Der enthielt einen dicken Stapel Dokumente. Fluchtpunkt. Menschenrechtsverletzungen in der Berliner Behördenpraxis gegenüber Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten war der Titel eines Papiers. Dabei lagen jede Menge Arztbriefe. Gutachten über traumatisierte Flüchtlinge. In einem Couvert steckte das Foto einer hübschen Frau um die 30. Auf die Rückseite des Fotos stand handschriftlich notiert Martha Klein PÄD verschwunden . Das wusste ich, dass Martha Klein verschwunden war. Dann war da eine zusammengefaltete Landkarte in dem Aktenkoffer. Ich entfaltete sie. Es war eine Landkarte von Elsass-Lothringen. Der Ort Hackenberg war rot umkringelt. Daneben stand in Tintenschrift geschrieben, mit der gleichen Schrift wie auf dem Zettel: Hochzeit in der Bunkeranlage am 1.06. FORT HACKENBERG. Was für eine Hochzeit? In welcher Bunkeranlage? Ich feierte gerne Hochzeiten, besonders im Elsass, zur Zeit der Weinlese. Es war aber Sommer und ziemlich schwül. Es war noch ein Couvert in dem Aktenkoffer. Ein etwas größeres. Ich öffnete es und nahm das Foto heraus. Ein Profiboxer, Schwergewicht, rammte mir seine Faust in den Magen. Ein penetranter Geruch von Mottenkugeln breitete sich aus und in mir eine steinerne Starre. Das Zimmer nahm die Dimension eines Schrankes an, in dessen Inneren ich schon lang nicht mehr gesessen hatte und in dem ich nie wieder sitzen wollte. Ich blickte wieder durch das Schlüsselloch, aber diesmal wie durch einen langen Tunnel, an dessen Ende der Priester stand. Vor der Basilika St. Johann in Saarbrücken, gegenüber meinem Mutterhaus. Er war älter geworden, aber es war unverkennbar der Priester auf dem Foto. Aus dem Stummfilm Priesterweihe mit der Hand am Po meiner Mutter, von der ich nicht einmal wusste, ob sie überhaupt noch lebte, und vor deren Röntgenblick ich Hals über Kopf Reißaus genommen hatte. In letzter Sekunde davongekommen. Überlebt! Halleluja! Meine Mutter schickte mir eine ihrer Röntgenassistentinnen hinterher. Diesmal die Rothaarige. Sie hatte den gleichen Blick. Den alles durchleuchtenden Mutterblick. Ein Geier, der sich in meine Schultern krallte. Selbst wenn ich dem Vogel die Beine absäbelte, würden seine Krallen nie loslassen. »Muttersöhne sind die sensibelsten. Ein neuer Typ Mann«, hatte die ledrige Seelenklempnerin gestern Abend gesagt. Staubgewordene Krallenhexe. Vom gleichen Kaliber wie die Rothaarige bei näherer Betrachtung. Ich würde immer wieder diesem Blick erliegen. Zum Kotzen.

    Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Tunnelstarre verharrte. Ich erwachte wie aus einer Totenstarre. Mit geschlossenen Augen stand ich eine Weile da. Schrankbilder. Der Duft des Badeschaums. Widerstand leisten. Gegen den Blick aller Rothaarigen dieser Welt. Meine Mutter war jetzt eine alte Frau. Plötzlich war sie wieder in meinem Leben. Heiter stimmte mich das nicht. Ich schaute auf die Waffen im Koffer. Ich schloss ihn. Was hatte das alles miteinander zu tun? Die Rothaarige mit den Messern und den Handgranaten und einem Priester, der vor einem Pelzschrank, in dem ich saß, meine Mutter fickte, mit einem Brief im ›Esplanade‹, mit dem Polizeiärztlichen Dienst und Martha Klein und mit mir und überhaupt? Ich dachte an die geklebten Kaffeetassen meiner Großmutter. Gleich und gleich gesellt sich gern. Das war eine Riesentasse, die ich gerade auszutrinken hatte. »Mensch, Oma«, rief ich. »Hau den Lukas, Enkel«, rief sie zurück. Sie haute wirklich den Lukas im Frühjahr auf der Kirmes wie ein Mann. Ich liebte meine Oma. Sie hatte die Wucht einer zärtlichen Dampfwalze. Ich lief die Treppe hinunter. Ich wusste noch nicht, an welcher Stelle in diesem Chaos ich mich festbeißen sollte. Ich würde sie schon noch finden.

4
    Das Grand Hotel ›Esplanade‹ liegt am Lützowufer. In ›Harrys New York Bar‹ ging man am besten nachmittags. Die lange Reihe der mit rotem

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