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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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wechselnden Launen einschätzen. Ihre Ausbrüche. Sie hatte ein cholerisches Temperament. Seismograf werden. Das war für mich eine Überlebensfrage. So konnte ich ihre Attacken erkennen und von mir ablenken. Nicht immer gelang es mir, doch so manche Kurve hatte ich gekriegt, ohne im Graben ihrer Lüste zu landen.
    Frauen schätzten diese Einfühlungsgabe. Woher sollten sie wissen, dass diese Gabe ein Ergebnis von Ängsten war? Und weniger die Frauen meinte als mein eigenes Überleben? Ich wurde immer perfekter. Ich roch, ich ahnte, ich fühlte ihre Winkelzüge.
    Diese Gabe, die ich erlernte, um mich meiner Mutter zu erwehren, verselbstständigte sich. Ich wurde ein perfekter Coach, der seine Gabe vermarktete. Aber in Wahrheit begab ich mich, wie unter einem Zwang stehend, immer wieder in eine Situation, die mich überrumpeln, demütigen und vernichten konnte. Es waren Grenzgänge, Gratwanderungen. Abstürze waren vorprogrammiert. Glücklich war ich nur in kurzen Augenblicken. Wenn ich Sieger war über die Niedertracht. Wenn ich ihr den Garaus gemacht hatte. Den Schlawinern und Halsabschneidern das Wasser abgegraben hatte. Dann durchströmte mich ein Glücksgefühl, das ich so gerne für immer festgehalten hätte. Weil ich es nicht konnte, musste ich immer wieder aufs Neue darum
    kämpfen. Um diese kurzen Momente.
    Wenn nur ich bei mir war, ich ganz bei mir, und sonst niemand, konnte ich mir eingestehen, dass ich um meine Mutter kämpfte. Ich wollte meine Mutter als Mutter, nicht als Frau, die sich immer zwischen mich und die Mutter drängelte. Diesen Kampf hatte ich nie aufgegeben. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hätte ich beide aufgeben müssen. So herrschte Verwirrung. Ich konnte sie nicht unterscheiden. Jede Frau, die mir über den Weg lief, wurde automatisch zur Konkurrentin einer Mutter, die ihren Sohn auch als Frau begehrte.
    War ich überhaupt ein Mann? Diese Frage hatte ich mir öfter gestellt. Konnte ein Mann überhaupt ein Mann sein, der nicht unterscheiden konnte zwischen Mutter und Frau? Ich war in der Klemme.
    Ich wusste, dass ich nach 30 Jahren nach Saarbrücken fahren würde. Eine Reise in die Vergangenheit. Ohne Ziel, ohne Absicht, ein Mörder auf einer Reise, der kein Mörder war. Eine mir unerklärliche Bangigkeit beschlich mich.
    Nach dem Campari bestellte ich mir noch einen Ricard mit viel Eis und Wasser. Der Campari war mir zu schlapp. Und dann würde ich mir das Kaninchen bestellen, das auf der Karte stand. Senfkaninchen mit Fenchelgemüse. Dazu passte der Ricard als Aperitif vorzüglich. Der Anisgeschmack des Ricard steigerte jenen des Fenchels. Deswegen tat ich immer einen Schuss Ricard ins Fenchelgemüse, das knackig bleiben musste.

8
    Das Kaninchen kam, nachdem ich den vierten Ricard zu mir genommen hatte, und es war phänomenal. Es hoppelte Gabel für Gabel gaumenzart vom Teller in meinen Mund. Die Senfkruste verband sich mit dem Anis des Ricard und des Fenchels geradezu erlesen.
    »Erlesen«, sagte ich zu Doris. Die guckte etwas verständnislos. Doris war nett, aber nicht wirklich helle. Dafür hatte sie ein strammes Gesäß, das beim Gehen in den engen Jeans ordentlich auf und ab walkte. »Erlesener Hase«, wiederholte ich mich, »und noch einen Ricard, bitte, Doris.« Den Rest der Soße tunkte ich mit dem frischen Baguette auf. Doris brachte den Ricard.
    »Doris, kennst du den Typen da drüben, den mit der Sonnenbrille? «
    »Nee, ha’ ick nie jesehn hier. Der sieht ja richtig dusta aus. Meen Fall is det nich.«
    Mein Fall war der Typ auch nicht. Er blinzelte beim Zeitunglesen hinter seiner Sonnenbrille ständig zu mir rüber. Ein langer Kerl in Jeans und ärmellosem T-Shirt. Sein Bizeps hüpfte, wenn er eine Seite der Zeitung umblätterte. Kurz geschnittene, hellblonde Haare. Sehr braun gebrannt. So ein richtiger Frohmensch, der mich ständig im Augenwinkel behielt.
    »Doris, ich geh mal um die Ecke. Bin gleich wieder da.«
    »Is jut, Fritz.«
    Das sagte ich ganz en passant zu Doris. Der Typ konnte es nicht hören.
    Nach den fünf Ricards und dem Campari war ich doch leicht angedüddelt. Ich ging auf der Leonhardtstraßenseite ins ›Dollinger‹ und verließ es auf der Seite zum Stuttgarter Platz wieder. Jetzt saß der Typ mit dem Rücken zu mir. Er winkte Doris. Er fragte sie was. Doris blickte zu meinem Platz und zuckte mit den Schultern.
    »Ich glaube, er ist aufs Klo«, sagte sie etwas zu laut. Ich stand ein paar Meter weg und das Lokal war voll, »bezahlt hat er

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