Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
Punktuelles, chirurgisches Foltern ohne Folgen für die Opfer.« Die Senatsverwaltung unterstützte Martha Klein in einer schriftlichen Erklärung ausdrücklich.
Das alles war notiert und dokumentiert in den Papieren aus dem Aktenkoffer, als wäre der eine Wallstatt.
Die S-Bahn hielt. Ich war da. Im tiefsten Osten Berlins. Bis in die Schleizerstraße ging ich zu Fuß. Die Trottoirs waren voller Löcher. Die Zementplatten herausgerissen. Darunter Sand. Sandmulden. Die Plattenbauten mit Farben aufgefrischt. Geranien auf den Balkons. Üppige Vorhänge hinter den Fenstern. Als lagerten da Wolkenbänke. Auf vielen Balkonen waren keine Geranien. Auch keine Vorhänge hinter den Fenstern. Da wohnte niemand. Hinter den meisten Fenstern wohnte niemand. Leere Fensterhöhlen.
Martha Klein existierte nicht. Niemand beim Polizeiärztlichen Dienst in der Schleizerstraße konnte sich an sie erinnern. In den Gängen saßen Frauen mit Kopftüchern, Kinder, alte Männer saßen da, Menschen mit kummervollen Gesichtern. Die meisten waren stumm. Manchmal ein Seufzen. Auffällig viele Mädchen waren dabei. Frauen redeten in einer fremden Sprache aufgeregt auf sie ein. Manche der Frauen weinten. Ein paar Jungen, die ins Leere starrten. Sie alle warteten auf einen Termin bei der Ausländerbehörde oder beim Polizeiärztlichen Dienst. Hier warteten Menschen voller Anspannung. Das war spürbar. Ich dachte an die Dokumente in dem Aktenkoffer. Niemand kannte Martha Klein. Auch nicht der Polizeipsychologe, zu dem ich vordringen konnte.
»Martha Klein? Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen.«
»Sie hat hier gearbeitet«, sagte ich und legte einige ihrer Gutachten auf den Schreibtisch. »Das hier sind Gefälligkeitsgutachten von ihr. Um kranke Flüchtlinge abzuschieben.«
Der Psychologe nahm die Gutachten und warf einen kurzen Blick darauf.
»Damit kann ich nichts anfangen. Sagt mir nichts.«
»Wie können sie Ihnen nichts sagen? Hier steht eindeutig Polizeiärztlicher Dienst, Schleizerstraße, Ihre Zimmernummer ist angegeben. Martha Klein saß auf dem Stuhl, auf dem Sie jetzt sitzen.«
»Ich sitze heute hier«, sagte der Polizeipsychologe. »Wer vor mir hier saß, entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Frau Klein hat systematisch Schwerkranke schikaniert. Hier sind richterliche Urteile, die das bestätigen. Sie handelte gesetzeswidrig. Mit Billigung Ihrer Behörde.«
Der Mann sah mich ausdruckslos an. »Draußen warten Leute.«
Es war nichts zu machen. Martha Klein existierte nicht. Auch der Leiter des Polizeiärztlichen Dienstes verweigerte sich.
»Ich habe Dutzende von Dokumenten, die eindeutig beweisen, dass Frau Klein hier gearbeitet hat. Das können Sie doch nicht leugnen!«
»Ich leugne doch nichts«, sagte der Leiter mit einem kühlen Blick. Seine Haut war mumienhaft ledrig, der Mund schmallippig. Ich dachte an die Lederkrallenfrau im ›Lentz‹.
»Ich sage nur, dass ich nichts zu Frau Klein sagen kann.«
»Sie könnten doch wenigstens zugeben, dass Sie sie kennen.«
»Ach, wen kennt man schon«, antwortete der Leiter. Ich hinterließ ihm meine Adresse:
»Falls Sie doch noch eine Erinnerung befällt.«
Das war kein guter Tag heute. Meine Laune sank auf den Nullpunkt. Ich brauchte einen Kaffee. Ich fand einen Getränkeautomaten, hatte aber kein Kleingeld. Wechseln konnte niemand. Vielleicht verstand mich auch niemand.
Die Anwesenden, die ich fragte und die eher abwesend schienen, guckten ausdruckslos auf meinen Geldschein, zuckten mit den Schultern oder guckten erst gar nicht.
Der Portier der Information schickte mich in die Kantine im 3. Stock.
»Fahrstuhl ist kaputt«, informierte er. Die Kantine hatte den Charme einer Bunkerküche. Tische mit Plastikdecken. Plastikblumen in Plastikvasen, in denen Wasser war. In manche Vasen hatten Scherzbolde Kaffee gekippt. Und Zigarettenkippen. Die Wände glänzten türkis, mit Ölfarbe gestrichen. Es fehlten nur noch die Pinkelbecken. Es roch nach einem Desinfektionsmittel. Ich bewegte mich zum Kantinentresen. Da war niemand. Ich schaute mich um. An einem der Tische saßen eine alte Frau mit einem grauen Kopftuch und ein alter Mann mit einem runden, bestickten Käppi und ein junges Mädchen, auch mit Kopftuch. Geblümt. Obwohl es unerträglich schwül war, trug die Frau einen dicken Wintermantel. Der Mann hatte eine gelbe Wollweste an, darunter ein kariertes, dickes Baumwollhemd. Alle drei schwiegen. Die alte Frau hatte auf ihren Knien eine große, schwarze Handtasche, in
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