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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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die
    sie hineinschaute. Sie holte ein Tuch aus der Tasche und tupfte sich die Augen. Sie schien zu weinen. Ganz stumm. Weinen hören konnte ich sie nicht. Es war ein Bild des Jammers vor der türkisfarbenen Kantinenwand an dem Tisch mit der Plastikdecke, Karo gemustert.
    »Hallo«, rief ich. Eine gelbgesichtige Frau kam. »War auf dem Klo«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab.
    »Was darf es denn sein?«
    »Sie könnten mal zum Zahnarzt gehen«, wollte ich sagen. Ihr Gebiss war eine reine Ruinenlandschaft. »Kaffee«, sagte ich.
    »Können Sie sich selber holen. Da am Automaten. Fuffzig Cent einwerfen«, meinte sie. Ich ging zum Automaten, warf 50 Cent ein und ließ den Kaffee in einen Pott laufen. Milch gab es nicht. Auch keinen Zucker. Ich setzte mich an einen Tisch neben das alte Paar und das Mädchen. Auf ihrem Tisch stand ein Zuckerstreuer.
    »Kann ich mal Zucker haben?«, fragte ich. Das junge Mädchen lächelte. Ich schätzte sie auf siebzehn. Ein bildhübsches Persönchen mit blauschwarzen Haaren.
    »Na klar«, sagte sie und reichte mir den Zucker. Die alte Frau tupfte sich wieder die Augen. Sie weinte tatsächlich. Der alte Mann hatte eine enorm fleischige Nase und viele Falten. Er hatte sich schon länger nicht mehr rasiert. Weiße Bartstoppeln zwischen den Runzeln. Er hatte schwere, abgearbeitete Hände. Ich schüttete Zucker in den Kaffee und rührte.
    »Was macht ein Deutscher hier?«, fragte mich das Mädchen.
    »Das frage ich mich auch«, sagte ich. »Ich suche eine Frau, die hier arbeitete. Keiner kennt sie. Und Sie?«
    »Das hier sind Nachbarn. Türken. Die können kein Wort Deutsch. Sie leben über 30 Jahre in Berlin. Sie wurden hierher bestellt. Ich soll für sie übersetzen. Sie kommen aus dem Dorf meines Vaters. Keine Ahnung, was die hier wollen.«
    »Haben Sie schon öfter hier übersetzt?«
    Sie zögerte mit der Antwort. Sie wirkte plötzlich ablehnend und verschlossen.
    »Ja, manchmal«, antwortete sie schließlich und schwieg. Offensichtlich war ihr die Frage unangenehm. Der alte Mann fragte sie etwas auf Türkisch. Sie schaute auf die Uhr und antwortete.
    »Wir sind viel zu früh hier. Sie haben Angst, zu spät zu kommen.«
    Ich fragte sie aus einer Intuition heraus.
    »Kennen Sie Martha Klein?«
    Sie wirkte überrascht. Ein paar Sekunden verstrichen, ehe sie antwortete.
    »Ja, die kenne ich.« Mehr wollte sie nicht sagen.
    »Sie täten mir einen großen Gefallen, mir von ihr zu erzählen. Ich glaube, es war keine sehr nette Frau.«
    Sie antwortete fast eruptiv.
    »Sie war ganz bestimmt keine nette Frau. Sie war ein Scheusal!«
    »Erzählen Sie mir mehr. Ich bitte Sie darum.«
    »Ich arbeite in einer Selbsthilfegruppe für Ausländer, die kein Deutsch können. Ich bin Deutschtürkin. In Berlin geboren. Wir begleiten die Leute zu Ämtern wie diesem hier. Eigentlich müsste man ihnen einen ausgebildeten Dolmetscher zur Seite stellen, der die Sitten der Leute kennt und richtig übersetzt. Alles in einen Zusammenhang stellen kann, wenn es nötig ist. Diese alte Frau neben Ihnen wurde vergewaltigt in ihrer Heimat. Sie würde nie mit Fremden darüber reden. Nicht einmal mit ihrem Mann. Der weiß gar nichts. Der sitzt nur hier, weil seine Frau ohne ihren Mann nirgendwo hingehen darf. Er ist ein Ignorant. Ein guter Dolmetscher sollte das wissen. Er weiß, dass eine solche Frau nur mit Mühe ihre Schande, wie sie meint, preisgibt. Sie könnte die Ehre ihres Mannes verletzen. Frau Klein stellte nie einen Dolmetscher zur Verfügung. Mit Absicht nicht. Am liebsten waren ihr kleine Mädchen, die einigermaßen Deutsch konnten und die ihre Mutter als Übersetzerinnen begleiteten. Diese Kinder mussten dann grausamste Sachen übersetzen. Massaker an ihren Familien, so was alles. Viele waren den Schilderungen ihrer Mütter nicht gewachsen. Sie hörten zum ersten Mal davon. Sie waren völlig geschockt. Stellen Sie sich vor, eine 9-Jährige hört, dass sie vielleicht das Ergebnis einer Vergewaltigung ihrer Mutter ist. Eine Mutter hatte in Srebenica 20 Angehörige verloren. Ihre 8-Jährige Tochter begleitete sie. Die Mutter zitterte am ganzen Leib. Das Mädchen sollte alles übersetzen. Zwischendurch fragte Frau Klein das Mädchen, ob man an der Adria gut Urlaub machen könnte. Das Mädchen verstummte. Es war den Schilderungen der Mutter, die ja auch den Tod ihrer engsten Angehörigen betrafen, nicht gewachsen. Die Mutter, schwer suizidgefährdet und unfähig, selbst etwas zu sagen, kam in Abschiebehaft.

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