Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
den ich mit niemandem teilte. Es war mein Ort. Im Schrank fühlte ich mich heimisch. Ich hatte schon lange in keinem Schrank mehr gesessen, aber das Gefühl war geblieben. Da war ich zu Hause. Ich hätte einen stabilen Biedermeierschrank auf Rädern gebraucht, in dem ich durch die Welt rollte. Durch das Schlüsselloch schaute ich auf die vorbeiziehende Welt wie durch einen Tunnel. Ich sah nur kreisrunde Fragmente und Ausschnitte. Die konnte ich nach Belieben neu ordnen und zusammenfügen.
Es hatte eine Zeit in meinem Leben gegeben, da fuhr ich mit Leidenschaft Motorrad. Ich nannte es Freezing. Einfrieren. Ich raste auf der Autobahn auf eine Brücke zu oder auf einen vor mir fahrenden Truck oder PKW. Ich konzentrierte mich meistens auf eines der Rücklichter vor mir. Ab einem bestimmten Punkt gefroren die Objekte meiner rasenden Begierde zu einem scharf umgrenzten Tunnelbild, auf das ich zupeste, in der Absicht, es zu zerstören. Um mit dem vor der Wucht des Aufpralls zersplitternden Eisbild selber zu zersplittern. Im Rausch einer Explosion alle Fesseln zu sprengen.
Es verlief immer glimpflich. Mehrmals hatte mich die hohe Geschwindigkeit aus der Kurve herausgetragen, dann, wenn ich einen Baum oder einen Busch auf einem Feld neben der Straße oder einen zufälligen Spaziergänger am Straßenrand im Tunnelblick hatte und auf ihn zuraste. Ein Funken Rest an Lebenswillen ließ mich knapp an den Objekten meines rauschhaften Vernichtungswillens vorbeischrammen. Ich verschenkte das Motorrad. Schuld daran war letztlich die Ledrige aus dem ›Lentz‹. Ich hatte sie auf einer Motorradtour mitgenommen.
»Ich fahre so unheimlich gerne Bike, weißt du?«
Ich wusste es nicht und nahm sie trotzdem mit. Mit dieser Frau im Kreuz bekam ich meinen Freezingtunnelblick auf der Strecke von Brandenburg nach Potsdam auf einer Chaussee in Richtung Werder/Havel. Die Bäume flitzten im Sekundentakt an uns vorbei. Wir landeten auf einem Acker.
Im ›Lentz‹ klärte sie mich auf, warum ich wie ein Irrer meine Freezingspielchen betrieb. Ich hatte ihr nach unserer Bruchlandung davon erzählt. Schließlich war ich ihr eine Erklärung schuldig, warum sie aus einer Kurve geschleudert wurde und mit mir auf einem Acker landete. Es war mehr oder weniger die alte Litanei, die sie predigte.
»Fritz, du sollst dich pflegen, schonen, auf dich Rücksicht nehmen, dir selbst vertrauen! Begreife endlich, dass deine Bedürfnisse deine Bedürfnisse sind und nicht die von irgendwem! Du handelst aber immer deinen eigenen Bedürfnissen spontan entgegen! Als müsstest du dich vernachlässigen! Als wären deine Bedürfnisse nicht deine! Bis zur Selbstaufgabe! Ich vernichte mich, also bin ich! Fritz, denk mal nach! Wessen Bedürfnisse befriedigst du tatsächlich, um sie endlich loszuwerden?«
Sie meinte es sicherlich gut mit mir. Ich verstand sie trotzdem nicht. Zumal sie stinksauer war. Bei ihren Ausführungen hatte mich wieder ein Lachanfall gepackt. Die Vorstellung, wie sie in ihrem weiten, schwarzen Ledermantel, den sie immer trug und der ihr bis zu den Knöcheln reichte, als Riesenfledermaus durch die Lüfte segelte und wie sie sich mit ihren ausgemergelten Armen und Beinen in den weichen Ackerboden bohrte, entlockte mir dieses Lachen. Sie fühlte sich von mir ausgelacht, wo sie sich doch gerade um mein Seelenheil bemühte.
Nachdem ich das Motorrad verschenkt hatte und nie mehr Motorrad fuhr, hatte ich auch keine Freezings mehr. Die Papiere von Thomas Bosic lagen immer noch unberührt vor mir auf dem Tisch. Der Milchkaffee war kalt und ich bestellte mir einen neuen.
Ich begann zu lesen.
Meine Mutter lebte mit ihrem Mann, mit dem sie
10 Jahre glücklich verheiratet war, und uns beiden Kindern bei Kriegsausbruch Anfang 1992 in Zvornik. In den ersten Monaten dieses Jahres schliefen wir aus Angst häufig im Wald. Es war Winter und es gab kaum etwas zu essen und zu trinken.
In dieser Zeit wurden von serbischen Soldaten nach vorgefertigten und mit Fotos versehenen Listen muslimische Frauen des Ortes gesucht und zusammengetrieben. Meine Mutter und viele ihrer Freundinnen wurden in ein Haus verschleppt und sollten dort vergewaltigt werden. Die Vergewaltiger waren alle maskiert. Meine Mutter erkannte an den Stimmen, dass alle Serben sowie frühere Freunde und Bekannte waren. Zusammen mit den anderen Frauen musste sie zuschauen, wie Frauen vergewaltigt wurden. Sie machten es mit einer nach der anderen und systematisch, alle sollten zuschauen, das gehörte
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