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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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besser. Irgendwann brauchst du sie nicht mehr, sagte Nemec. Jetzt ist er weg. Mist. Kennst du dich mit Schränken aus?«
    »Ich glaub schon.«
    »Ach, komm. Ehrlich?«
    »Ich bin Schrankspezialist. Ich bin sozusagen in Schränken groß geworden. Wenn ich es recht bedenke, bin ich ein Schrankmensch. Ich weiß ganz genau, wie es in Schränken aussieht. Ein Schrank ist mein Zent-rum. Die Welt liegt vor dem Schrankschlüsselloch. Der Schrank regiert die Welt. Im Schrank liegt sie beschränkt. Der Schrank ist eine Filmfabrik. Ich produziere Videos. Ich habe sie aber alle gerade verlegt. Sie werden sich schon noch finden.«
    »Alter, du kennst dich ja aus!«, staunte er.
    Beim Verzapfen meines Nonsens merkte ich, wie wenig Nonsens es war. Das war fast ein Offenbarungseid.
    Ganz dicht war der junge Mann nicht. Dabei verstand ich ganz genau, was er meinte mit seinen Laufbändern. Er hatte seine Schriftzeichen und Comicfiguren, ich hatte meine Hilfsbrüder. Und irgendwo in meinem Hirn hatte ich einen ganzen Lagerbestand an Videos, die sich meinem Zugriff entzogen hatten. Er immerhin hatte seine Laufbänder parat, er konnte mit ihrer Hilfe fabulieren, kommunizieren, parlieren, agieren, ein Garn spinnen, das jeden Seebär verstummen ließ.
    Ganz dicht war er nicht. Er musste einen kräftigen Schlag abbekommen haben.
    Wie dicht aber war ich? Irgendetwas hatte auch mir auf den Kopf gehauen.

    Hier saßen sich zwei Kopfgeschlagene gegenüber und hielten Zwiesprache. Zwei Visualisten, die es anders nicht auf die Reihe bekamen. Er war ungefähr so alt wie ich damals. Mein alter Ego. Ein Waldschratt, der Tankstellen überfiel und Laufbänder produzierte.
    Einen Moment zweifelte ich, ob das Gasthaus ›Lentz‹ in Berlin wirklich ein Gasthaus war und keine Irrenanstalt. Die ledrige Buschtrommlerin war die Stationsärztin und Siggi hinterm Tresen hielt mich als Stationspfleger mit Buletten in Schach, bevor ich ganz ausflippte und den Laden in seine Einzelteile zerlegte.
    Seine Frage nach den Schränken hatte für mich den Schub einer Weltraumrakete. Ich hielt Schränke bisher für mein Revier. Jetzt saß da womöglich noch ein Schrankhocker vor mir, der gerade das letzte Stück Rührei runterschluckte.
    »Was hast du denn mit Schränken am Hut?«, wollte ich von ihm wissen.
    »Erzähl du doch mal was. Sitzt da rum und sagst nix. Du bist wohl ein ganz Schlauer?«
    Ich konnte nicht widersprechen. Was sollte ich ihm erzählen? Ich erzählte ihm von den Mottenkugeln im Schrank und von meinem ersten großen Mottenkugelrausch. Wie ich mit glasigen Augen völlig benommen von den ätherischen Mottenkugelschwaden als Kind über den St. Johanner Markt wankte.
    Wie oft stand meine Mutter vor dem Schrank und fragte, ob ich wieder brav sei.
    »Nein«, rief ich. Warum sollte ich › ja ‹ rufen, wenn ich gar nicht böse war? Der Schrank war der Ort meiner Verbannung. »Ab in den Schrank«, hieß es. Ich unterwarf mich freiwillig der Prozedur, um nicht unter der Aufsicht meiner strafenden Mutter in das Schrankungetüm steigen zu müssen. Ich ging alleine zum Schrank, öffnete die große Tür, nachdem ich den großen Eisenschlüssel im Schloss umgedreht hatte, öffnete eine der beiden Türen, sie knarrte beim Öffnen, stieg in den Schrank, indem ich die Pelze beiseiteschob, und an einer kräftigen Kordel, die über die Innenseite der Türe gespannt war, zog ich die Türe von innen kräftig zu. Da saß ich dann viele Stunden. Es konnte einen ganzen Tag dauern.
    »Hast du Hunger?«, rief die mütterliche Stimme abends vor dem Schrank.
    »Nein«, rief ich, obwohl mein Magen knurrte wie ein hungriges Wolfsrudel.
    Einmal wurde sie deswegen so wütend, dass sie mich aus dem Schrank zerrte und mit dem Treibriemen einer Nähmaschine, der gerissen war, grün und blau prügelte. Vor den Augen einer Angestellten meiner Mutter, die zuschaute und nicht eingriff. Sie wollte meiner Mutter lediglich etwas bestellen. »Sind Sie bald fertig, Frau Neuhaus? Die Frau Professor wartet zur Anprobe.« Meine Mutter ließ von mir ab. Ich kroch vor Scham vor der Angestellten in den Schrank zurück. Ich hatte diese Szene völlig vergessen.
    Obwohl es eine Zumutung war, erzählte ich ihm auch diese Geschichten. Wie sollte ich in seinen Schrank gelangen, wenn ich meinen nicht öffnete? Er hörte aufmerksam zu.
    »Nach und nach wurde der Schrank mein einziger sicherer Ort«, schloss ich.
    »Da hast du Glück gehabt in deinem Schrank. Es gibt ganz andere Schränke. Du kannst

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