Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
helle Bluse. Sie war eine aparte Erscheinung.
»Ist er weg?«
»Scheint so.«
»Wann kam er denn?«
»Keine Ahnung. Ich schlief. Er saß im Sessel in meinem Zimmer. Ich weiß nicht, wie lange er schon da saß. Er vermisst Nemec.«
»Er und seine Schwester waren bei Nemec in Therapie. Thomas hat große Schwierigkeiten. Seine Schwester auch. Das hängt mit ihren Erlebnissen in Bosnien zusammen. Mit der Flucht. Hier im Lager muss aber auch noch etwas Gravierendes passiert sein. Er ist völlig untergetaucht.«
»Was meint er mit den Laufbändern?«
»Nemec hat versucht, es mir zu erklären. Thomas ist ein Mensch, der in seiner eigenen Haut zum Zwerg geschrumpft ist. Die Haut ist nicht mitgeschrumpft. Sie ist unverändert geblieben. Sie umgibt ihn wie eine Plazenta, die zu weit weg ist, um sie mit den Händen oder den Füßen berühren zu können. Sie nährt ihn nicht. Er ist ständig am Verhungern. In jeder Hinsicht. Du musst dir das plastisch vorstellen. Du schrumpfst zu Zwergengröße und hockst in dir selbst wie ein Zwerg. Winzig mitten in dir drin. Keiner sieht diesen Zwerg. Du wirkst nach außen hin auf deine Mitmenschen völlig normal. Deine Haut ist intakt geblieben. Der Zwerg schickt seine Wörter auf Reisen, auf sein Hautäußeres. Er weiß nie, ob die Reise gelingt. Er lebt in ständiger Ungewissheit, ob die Botschaften, die er auf der Haut organisiert wie Laufbänder, ankommen. Du meinst, er spricht mit dir. Er meint, du liest seine Laufbänder. Wenn du mit ihm sprichst, versammeln sich deine Wörter auf seinem Hautäußeren wieder zu Laufbändern, die er abliest. Er meint, er könnte als Zwerg schreien so laut er kann. Keiner hört ihn, weil er ein Zwerg ist und so weit weg. Du kannst nicht einfach mal ›hallo‹ rufen vom Mond zur Erde, sagte er zu Nemec. Deswegen hat er die Laufbänder erfunden. Um sich zu verständigen. Er ist nicht immer in diesem Zustand. Immer dann, wenn er sich besonders ängstigt. Thomas glaubt, als Zwerg wird er übersehen. Daher hat er alles überlebt und wurde nicht abgeschlachtet wie der Großteil seiner Familie. Sein Vater, Großvater, seine Brüder, Onkels, Nachbarn. Er hat alles aus einem Schrank beobachtet. Die Laufbänder sind ein Schutz gegen immer wiederkehrende traumatische Bilder und Erinnerungen. Er kann nicht direkt darüber berichten. Das würde ihn überfordern. In seiner Fantasieidentität, in seiner Verwandlung in einen unsichtbaren Zwerg, der sich hinter einem Hautpanzer versteckt, glaubt er, seinen Bildern und Erinnerungen an Schreckliches entkommen zu können. Der kleine und unbedeutende Zwerg fühlt sich von den schrecklichen Ereignissen, die ihn immer wieder zu überschwemmen drohen, abgeschnitten. Er will das Massaker, das er vom Schrank aus sah, die Ermordung seiner Seele ungeschehen machen. Besser kann ich es dir nicht erklären.«
Mir reichte die Erklärung.
»Ich dreh mal eine Runde.«
Ich verschwand und ließ eine etwas verdutzte Corinne zurück.
»Die Frau Quack kommt um neun. Sie will uns das Lager zeigen«, rief sie hinterher.
Der Markt war unverändert. Die gleichen Blumen in den gleichen Eimern unter den gleichen bunten Marktständen bei der gleichen Emsigkeit beim Aufbauen der Stände. Die Händler und Händlerinnen sprachen bei ihrer Arbeit nicht viel. Ein Kommando beim Rangieren eines Lieferwagens, ein paar Begrüßungsrufe. Ich schlenderte zwischen den Ständen zum Café. Es hatte bereits geöffnet. Die ersten Zeitungsleser tranken ihren Milchkaffee. Ich schaute nach Rosi. Sie war nicht da.
»Arbeitet Rosi hier nicht mehr?«
»Die macht Urlaub.«
»Ich nehme einen Milchkaffee und ein Croissant mit Marmelade.«
»Kommt sofort.«
Ich wollte mir die Zeitung holen. Die hatte sich bereits ein anderer Gast genommen. Ein zweites Exemplar gab es nicht. Der Milchkaffee und das Croissant wurden serviert. Ich nahm beides und setzte mich in eine Ecke, die zugewachsen war mit Kletterpflanzen. Das entzog mich den Blicken. Durch die Kletterpflanzen hielt ich Ausschau nach dem Lieferwagen, in dem der Tangotänzer oder einer seiner Komplizen uns überwachte. Es gab einzig die Lieferwagen der Händler. Ich legte die vollgeschriebenen Seiten vor mich auf den Tisch, die mir Thomas Bosic zurückgelassen hatte.
Ich wollte sie nicht sofort lesen.
Vielleicht hatte ich auch einfach Angst vor dem Inhalt dieser Blätter und wollte gar nicht wissen, was mir ein anderer Schrankbewohner zu berichten hatte.
Der Schrank war der einzige Ort in meinem Leben,
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