Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
dazu, eine nach der anderen sollte drankommen. Nachdem bereits mehrere Frauen vergewaltigt worden waren, kamen ihre Männer, die herausgefunden hatten, wohin man sie verschleppt hatte, und griffen das Haus an. In dem dadurch entstehenden Gefecht konnte meine Mutter durch ein offenes Fenster fliehen. Bald darauf wurden die Männer, Frauen und Kinder aus Zvornik zusammengetrieben und nach Geschlechtern getrennt. Kleine Kinder konnten bei den Frauen bleiben. Ich war damals zwei Jahre alt und mein Bruder fünf. Meine Mutter hatte uns in einem Schrank versteckt, der auf dem Platz unter anderen Möbeln und Gepäckstücken im Freien stand. Mein Bruder musste mit ansehen, wie einige der Männer sofort getötet, andere misshandelt wurden, bis sie zusammenbrachen. Er und meine Mutter sahen, wie ihr Ehemann brutal zusammengeschlagen wurde und sie waren Augenzeugen, als er unter einen Panzer fiel. Dies war das letzte Mal, dass sie und mein Bruder ihn lebend sahen. Ich hatte mich tief in den Schrank verkrochen. Meine Mutter hat später erfahren, dass die Männer, die das Massaker in Zvornik überlebten, in Konzentrationslager verschleppt und dort getötet wurden. Vom Roten Kreuz, über das meine Mutter meinen Vater hat suchen lassen, hat sie die Nachricht erhalten, dass viele muslimische Männer aus Zvornik von Serben in einer nahegelegenen Fabrik ermordet wurden. Die Frauen mussten bleiben. Viele wurden vergewaltigt und getötet. Etwa 12.000 Frauen und Kinder wurden auf einer Wiese zusammengetrieben und mussten dort den ganzen Tag bleiben, bis sie in Busse und auf große offene L kw s verladen wurden, um nach Memic gebracht zu werden. Die serbischen Bewacher drohten den Frauen und Kindern damit, sie unterwegs von der Ladefläche dieser Kipper wie Müll in eine Höhle zu schütten.
Der Weg war schrecklich. Immer wieder hat meine Mutter gedacht, jetzt ist alles aus. Sie weiß nicht, wie wir das überlebt haben. Wir wurden immer wieder aus den L kw s herausgeschmissen. Sie haben wahllos zugeschlagen und Menschen um uns herum erschossen. Wir mussten mit ansehen, wie sie 15-Jährige Zwillinge mit Schraubenziehern getötet haben. Meine Mutter sagte, ich kann diese Bilder sehen, ich erzähle davon, aber sie bleiben in mir. In Memic wurden die Frauen wieder in zwei Reihen sortiert. Eine Reihe Frauen wurde zur Vergewaltigung ausgesondert, von ihren Angehörigen getrennt und in eine nahe gelegene Schule gebracht. Meine Mutter gehörte zu den Frauen. Wir schrien aber so laut, mein Bruder und ich, dass meine Mutter wieder zu uns auf die andere Seite zurückkehren konnte und so der Vergewaltigung entkam. In Tuzla traf meine Mutter einige dieser Frauen wieder, die von systematischen Vergewaltigungen berichteten.
Die Frontlinie verlief neben Memic. Frauen und Kinder, unter ihnen auch viele alte Menschen, wurden aus den L kw s getrieben und mussten von dort 12 Kilometer zu Fuß nach Tuzla laufen. Während dieser Flucht gab es dauernd Angriffe. Die Fliehenden gerieten zwischen die Frontlinien. Es war wie ein großer Sturm, der alles wegfegte. Wir sahen Frauen und Kinder sterben, sagte meine Mutter. Ich bin heute noch verwundert, dass wir dies überlebt haben. In Tuzla wurden wir in Kasernen untergebracht. Meine Mutter musste sich und uns Kinder, in den drei Jahren, die wir dort verbrachten, unter unsäglichen Bedingungen durchbringen. In dieser Zeit suchte sie über das Rote Kreuz nach ihrem Mann und anderen überlebenden Angehörigen, ohne jemanden wiederzufinden. Im August 1995 kamen wir nach Deutschland.
Schlabbach, Juli 2006, Lea Bosic, Übersetzerin, Protokoll nach einem Verhör meiner Mutter durch Frau Klein. Der Bericht war handschriftlich unterschrieben.
Am 1. und 5. Juni 1992 hatte es tatsächlich Massaker an 800 Bosniern durch serbische Soldaten gegeben. Die Massaker hatten in einer Mittelschule in dem Ort Korakaj auf einem Schlachthof und in einem Kulturheim des Ortes Pilici stattgefunden. Es war ein äußerst brutales Gemetzel an der muslimischen Zivilbevölkerung, von dem dieser Bericht Zeugnis ablegte.
Zumindest hatte ich jetzt den Beweis, dass Martha Klein im Schlabbacher Flüchtlingslager am Wirken war. Ich erinnerte mich daran, wie Barbara mir in Berlin von Nemec erzählte. Ein Geschwisterpaar hätte ihm besonders am Herzen gelegen. Das konnten nur Lea und Thomas Bosic gewesen sein. Leider fehlte das genaue Datum, wann im Juli das Verhör stattgefunden hatte. Offensichtlich hatte Lea den Bericht ihrer Mutter für Martha
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