Fröhliche Wiederkehr
eine große graue Ratte auf die Hinterbeine und putzte sich mit den Vorderpfoten die Nase und den Schnurrbart. Die Frau nahm ein Keksbröckchen zwischen die Lippen, strich der Ratte mit der Spitze des Mittelfingers sanft über die dunklen Rückenhaare und lockte sie mit leisen Schnalzlauten zu dem Leckerbissen empor. Der Roland kletterte auf ihre Schulter und holte sich das Keksbröckchen mit seinen kräftigen Nagezähnen aus ihren Lippen. Dabei sah er mich aus klugen, schwarzen Knopfaugen aufmerksam an. Er sah richtig nett und manierlich aus, sogar der kahle Schwanz wirkte gar nicht abstoßend.
»Du hast doch nichts dagegen, daß Roland ein wenig umherläuft und sich seine kleinen Füße vertritt?«
Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, und sie sagte ihrem Roland, daß er sich ein wenig im Abteil umsehen dürfe; und Roland schien jedes Wort zu verstehen, machte auf ihrem langen Rock eine Rutschfahrt und landete zwischen ihren Füßen auf dem Boden, um eine kleine Inspektionsreise durch das Abteil zu unternehmen. Ich zog unwillkürlich die Beine hoch, aber Roland zeigte nicht die geringste Absicht, an mir hochzuklettern, und so stellte ich die Füße wieder auf den Boden.
»Jetzt möchte ich aber doch wissen, weshalb Sie den Roland Ihren Ernährer genannt haben, und warum Sie das Halsband mit den kleinen Glöckchen bei sich tragen? Sie können ihn doch nicht wie einen Hund auf der Straße spazieren führen...«
»Ach, weißt du, Jungchen«, sagte sie, »eigentlich bin ich ja Klavierlehrerin, und ich übe meinen Beruf auch noch immer aus, aber manchmal geht mir das ewige Geklimpere von den Anfängern — und ich habe es leider nur mit Anfängern zu tun — doch furchtbar auf die Nerven. Und was mir die Klavierstunden einbringen, das langt nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Aber was ich durch meinen Roland verdiene, das ist das eigentliche, denn das sind Gänse und Enten und Eier und Speckseiten und Butter und Käse und manchmal, wenn auch selten, Geld, zehn Mark und gelegentlich auch zwanzig... Ja, ich habe viele Kunden auf dem Lande, zwölf Bauern sind es allein in der Stürlacker Gegend, und dort erwartet mich sogar ein Gutsbesitzer, der Herr von Masslow auf Gross-Juchen...«
»Ja, und?« fragte ich höchst gespannt, denn ich konnte mir um alles in der Welt nicht denken, was sie und ihr Roland in Stürlack bei zwölf Bauern und bei dem Herrn von Masslow auf Gross-Juchen zu tun hatten.
»Das ist doch ganz einfach«, antwortete sie und lockte den Roland mit einem neuen Keksbrocken zu sich heran, »wir vertreiben den Bauern aus ihren Häusern und Ställen und Scheunen die Ratten. Ich fahre mit meinem Roland in der ganzen Provinz herum, von Tilsit bis nach Ortelsburg und von Frauenburg bis nach Eydtkuhnen. Ich hänge meinem Roland das Band mit den Glöckchen um den Hals, und damit schlüpft er in ihre Löcher und läuft durch ihre unterirdischen Gänge und jagt sie mit seinem Geläut davon. Ratten sind sehr scheue Tiere und besitzen ein gutes Gedächtnis. Es dauert sehr lange, bis sie in ihre alten Schlupfwinkel zurückkehren.«
Der Zug näherte sich Stürlack, ihrem Ziel.
»Komm, Roland, mein Herzblättchen, komm schon, wir müssen bald an die Arbeit.« Sie stellte die kleine Kiste auf den Boden, und Roland kletterte folgsam in sein warm gepolstertes Gefängnis.
»Wie haben Sie ihn bloß so gut dressiert?« fragte ich wißbegierig, denn mir schienen sich Perspektiven auf einen neuen und allem Anschein nach sehr nahrhaften Beruf zu eröffnen.
»Ach«, sagte sie und erhob sich, denn der Zug bremste seine Fahrt ab, »mit Liebe und Geduld und Tilsiter Käse, den frißt mein Roland nämlich für sein Leben gern.«
Großvater, dem ich die aufregende Geschichte meiner Zugbekanntschaft eine halbe Stunde später brühwarm erzählte, brummte, das sei wohl das Hirnrissigste, was er in seinem Leben gehört habe. Und überhaupt müsse man dem Frauenzimmer das Handwerk legen. Das sei ja der reine Betrug. Denn was täte sie schon anderes, als die Ratten von einem Bauernhof zum anderen zu jagen. Aber so sei das nun einmal auf der Welt, jeden Morgen ständen ein Dutzend Dumme auf, und ein einziger gerissener Gauner habe nicht mehr zu tun, als die Dummen zu finden. Mir erschien es sehr unwahrscheinlich, daß sich unter den zwölf Dummköpfen auch der Herr von Masslow befinden könne, aber Großvater sagte, den Herrn von Masslow auf Gross-Juchen kenne er gut, und mit der Erfindung des Schießpulvers habe der ganz bestimmt
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