Fröhliche Wiederkehr
ich war so groß wie sie und ließ mir von ihr nichts mehr gefallen.
In dem großen Abteil vierter Klasse, in dem mir eine ältere Frau großzügig ihren Fensterplatz überließ, herrschte die gleiche gedrückte und gespannte Stimmung wie daheim. Ja, wenn es gegen die Franzosen gegangen wäre! Aber gegen die Russen... Die kannte man doch, das waren doch sozusagen Nachbarn. Und wenn sie auch im Krieg gegen Japan Prügel bezogen hatten, so war ihr Zar doch ein mächtiger Herrscher und konnte furchtbar viele Soldaten ins Feld schicken, und überhaupt, ein Krieg gegen die Russen, das war doch genauso, als wenn man gegen eine Dampfwalze mit nackichten Händen anrennen wollte. Das meinte jedenfalls die Frau, die mir ihren Fensterplatz abgetreten hatte, dies allerdings auch nicht aus Gutmütigkeit und Kinderliebe, sondern weil sie keinen Zug vertragen konnte. Während der ganzen Fahrt hielt sie eine kleine Holzkiste auf dem Schoß, etwa doppelt so groß wie die Kistchen aus Zedernholz, in denen Vater seine Zigarren in Großpackungen zu zweihundert Stück aus Bremen bekam. Manchmal raschelte es in der Kiste, und manchmal glaubte ich ein leises Pfeifen oder Piepsen zu hören. Ich wurde aus der Frau nicht recht klug, sie war zwar wie eine Bauersfrau gekleidet, hatte aber gepflegte Hände und sprach auch nicht wie eine Bäuerin. Die meisten Mitreisenden verließen den Zug schon in Preußisch Eylau und Bartenstein, und hinter Korschen hatten wir beide das Abteil ganz für uns.
Sie erkundigte sich nach meinem Woher und Wohin, und ich erzählte ihr, daß ich auf dem Wege zu den Großeltern sei. Sie sagte, daß sie schon in Stürlack aussteigen werde. Und da wagte ich die Frage, ob sie vielleicht Tauben oder Küken in der Kiste habe, die sie so vorsichtig und behutsam auf ihrem Schoß hielt. Aber sie schüttelte den Kopf, nein, es wären weder Küken noch Tauben...
»Aber es piept doch manchmal in der Kiste...«
»Gut, daß du der einzige bist, der es gehört hat«, sagte sie geheimnisvoll, »denn ich habe deswegen schon manchmal mit Leuten, die das Piepsen erkannt haben, Unannehmlichkeiten gehabt.«
Unannehmlichkeiten — das war auch wieder so ein Wort, das gar nicht zu ihrer einfachen Kleidung paßte: »Was ist denn nun in der Kiste drin?« fragte ich neugierig und wollte es endlich wissen.
»Mein Ernährer«, antwortete sie nach kurzem Zögern mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme und im Ausdruck, die mich veranlassten, jedes Kichern zu unterdrücken. Sie stellte die Kiste für eine Minute neben sich auf die Bank, öffnete ihre große lederne Handtasche und zog aus einem Seitenfach ein winziges Halsband hervor, das mit lauter kleinen, goldenen Glöckchen besetzt war. Es gab keinen Hund und keine Katze auf der Welt, die so klein waren, daß sie dieses Halsband hätten tragen können. Sie steckte es in ihre Tasche zurück und nahm die Kiste wieder auf ihren Schoß.
»Mein kleiner Liebling heißt Roland«, sagte sie dann, und mir wurde ein wenig unheimlich zumute, weil ich mir nichts anderes denken konnte, als daß bei ihr im Oberstübchen eine Schraube locker sei. Aber dann klopfte sie mit dem Fingernagel ganz leicht auf den Kistendeckel und ließ aus gespitzten Lippen ein paar lockende Pfiffe in gleicher Tonhöhe hören. Die Pfiffe kamen aus der Kiste um eine Oktave höher, aber im gleichen Intervall zurück.
»Jetzt hast du meinen kleinen Liebling ganz deutlich gehört«, sagte sie zärtlich. »Ach, die meisten Leute fürchten sich vor ihm. Und manche ekeln sich sogar. Dabei sind es die saubersten und klügsten Tierchen, die es auf der Welt gibt...« Sie sah mich prüfend an: »Wie ist das bei dir? Fürchtest du dich etwa auch vor Ratten?« »Nicht gerade daß ich mich fürchte«, antwortete ich mit einem kleinen Frösteln im Rücken; »aber es hat mich mal eine in den Finger gebissen, als ich ein Glas Eingemachtes aus dem Keller holte.«
»Ach, jedes Tier wehrt sich, wenn es erschreckt wird. Der Hund beißt zu, und die Katze schlägt dir die Krallen ins Gesicht. Das ist nun einmal so. Aber du kannst ganz beruhigt sein, mein Roland beißt nicht und kratzt nicht. Willst du ihn mal sehen?«
Eine Ratte, die Roland hieß und die sie ihren Ernährer genannt hatte, das war nun wirklich eine Sehenswürdigkeit, die ich mir nicht entgehen lassen wollte, auch wenn ich Ratten für alles andere als sympathisch hielt. Die Frau öffnete den Kistendeckel, und in der mit einem hübschen bunten Stoff austapezierten Kiste setzte sich
Weitere Kostenlose Bücher