Fröhliche Wiederkehr
nichts mit den kleinen, eleganten Instrumenten gemein, die heute im Gebrauch sind. Es war ein Apparat vom Format einer mittleren Weckuhr, den Vater mit einem Haken in das oberste Knopfloch seiner Weste hängte. Dann band er eine mit dem Passometer verbundene Schnur nicht zu locker und nicht zu straff unterhalb des rechten Kniegelenks um seine Wade. Diese Schnur setzte bei jedem Schritt ein kompliziertes Räderwerk in Bewegung, das einen Zeiger um ein Zifferblatt kreisen ließ. Bei einer Schrittlänge von achtzig Zentimetern konnte Vater dann am Abend genau ausrechnen, wieviel Kilometer wir geschafft hatten. Mir kauften sie einen kleinen Rucksack aus grünem Schilfleinen, den Mutter mit belegten Broten, harten Eiern und kalten Klopsen füllte. Und dann fuhren wir mit der Bahn nach Cranz, aber nicht, um wie andere Leute in der See zu baden, am Strand zu faulenzen, Burgen zu bauen und sich von der Sonne braten zu lassen, sondern von Cranz ging’s in Gewaltmärschen über die Nehrung nach Sarkau und Rossitten, oder am Strand entlang über Neukuhren nach Rauschen, Vater mit dem Passometer auf dem Bauch voran und wir hinterdrein, bis uns die Zungen aus dem Hals heraushingen. Oder er schleppte uns durch Felder und Wälder am Landgraben entlang nach Juditten, Herders Geburtsort, wo in dem hübschen Gartenlokal ein Schild verkündete: Der alte Brauch wird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen! Aber wenn der Kaffee getrunken und der Streuselkuchen verzehrt war, ging’s weiter über Metgethen und durch den Hochwald nach Vierbrüderkrug, wo zu der Zeit, da Heinrich von Querfurt Hochmeister war, vier Ordensbrüder von den bösen Pruzzen aus einem Hinterhalt überfallen und ums Leben gebracht worden waren. Der verfluchte Passometer ließ jeden Sonn- und Feiertag zum Alptraum werden, und als das Biest eines Tages nicht mehr funktionierte, da hatte Vater mich im Verdacht, das Räderwerk überdreht zu haben, aber ich möchte schwören, daß Mutter selbst es war, die Vaters Lieblingsspielzeug zerstört hat. Leider vermochte der Verlust des Passometers Vaters Bewegungsdrang nicht zu bremsen. Das hätte nur ein Beinbruch geschafft, den ich inbrünstig herbeisehnte, ohne daß meine Bitten je erhört wurden.
Schon vor der verunglückten und ominösen Neujahrsnacht des Jahres 1914 hatte sich ein Herr, der Else zu den Bällen der Cimbern ausführte, zuweilen bei uns eingefunden, um Mutters ausgezeichneten Sand- und Mohnkuchen zu probieren. Gelegentlich erschien er auch zu den Familienausflügen, allerdings nicht beim Abmarsch, sondern erst am verabredeten Ziel, an dem er auch nicht etwa zu Fuß, sondern mit der Straßenbahn oder Eisenbahn zu uns stieß, denn seine Neigung für Gewaltmärsche war unterentwickelt. Auf dem Heimweg bummelte er, was weder Vater — der sonst darauf achtete, daß wir in geschlossener Formation dahintrabten — noch Mutter zu bemerken schien, mit Else in weitem Abstand hinterdrein; und wenn ich zurücklaufen wollte, um die beiden Nachzügler zu einer beschleunigten Gangart zu ermuntern, dann scheuchte Mutter mich wieder an die Spitze des Zuges. Das war sehr ungewöhnlich, denn früher hatte besonders Vater meinen Schwestern den Umgang mit Personen männlichen Geschlechts strikt verboten und streng darauf geachtet, daß die Mädchen im Winter bei Anbruch der Dunkelheit und im Sommer pünktlich um sechs Uhr daheim waren, und er war sehr ungemütlich geworden, wenn sie sich nur um Minuten verspäteten. Bald erschien der fremde Herr auch an Sonntagen zum Mittagessen, brachte Blümchen mit und fand für Mutters Rindsrouladen und Schweinerücken Worte des Lobes und Dankes. Und nach Neujahr trug meine Schwester Else einen breiten goldenen Ring am Finger, der — einem mittelalterlichen Ring nachgebildet — umlaufend in erhabenen frühgotischen Lettern die Inschrift »myt willen dyn« trug. Vater schüttelte zwar den Kopf und brummte, ein normaler glatter Ring hätte es auch getan, aber Mutter meinte, Else hätte von jeher Sinn und Geschmack für etwas Besonderes gehabt. Die Hochzeit fand in den letzten Tagen des Juni statt, nicht nach jedermanns Art in der Kirche, sondern Else setzte auch für dieses wichtige Ereignis in ihrem Leben durch, was sie für besonders stilvoll hielt, sie bestand auf einer Haustrauung. Der Küchentisch wurde zum Altar umfunktioniert, mit einem von Mutters großen Tischtüchern drapiert, mit roten Moosröschen geschmückt und von zwei Kübeloleandern flankiert. Ein
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