Fröhliche Wiederkehr
und daß es mit ihm wohl bald zu Ende gehen werde. Großvater meinte, in diesen Zeiten sei es sicherlich das Gescheiteste, sich davon zu machen, denn von der Zukunft hätten wir alle nichts Gutes zu erwarten, aber damit kam er bei Schwester Christine schlecht an. So etwas dürfe er nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen, denn der alte Gott lebe noch und werde seine Preußen gewiß nie im Stich lassen.
Es war ein glühend heißer Augusttag, und wir wären auf dem Heimweg gern durch die schattigen Anlagen vor dem Landgericht gegangen, wenn man dort hätte gehen können. Aber entweder waren es zu viele Russen, die sich in den von ihnen besetzten Kasernen auf die Latrinen drängten, oder sie kannten diese segensreichen sanitären Einrichtungen nicht, oder sie waren Freiluftmenschen, die zur Erledigung ihrer natürlichen Bedürfnisse eine natürliche Umgebung bevorzugten. Mit einem Wort, die schönen gepflegten Rasenflächen, Blumenrabatten und Kieswege der Anlagen waren, wo man auch gehen oder stehen wollte, knöchelhoch vollgeschissen. So hielten wir beide uns, flach atmend, nach Prüfung der Windrichtung am äußersten Straßenrand, als ein russischer Soldat, noch mit dem Zuknöpfen seiner Hose beschäftigt, hinter einem Gebüsch vortrat, quer über die Straße auf uns zukam und Großvater fragte, wie spät es sei. Jedenfalls verstand Großvater die Frage so, denn der Russe sagte nur: »Urri Urri?« Großvater zog seine große goldene Sprungdeckeluhr aus der Westentasche, ließ den Deckel aufspringen und wollte gerade »Halb vier« sagen, als der Kerl blitzschnell Zugriff und die Uhr mitsamt der goldenen Kette so heftig an sich riß, daß ein Fetzen von Großvaters grauer Sommerweste mitging. Großvater brachte vor Verblüffung über diese Frechheit oder vor Schrecken kein Wort heraus, der Uhrendieb machte lange Beine, und ich rannte schreiend hinter ihm her. Quer durch die menschenleeren stinkenden Anlagen und ein Stück der Feldstraße hinauf, an deren Ende die alte Ulanenkaserne lag. Es waren eine Menge Soldaten unterwegs, die mein Geschrei nicht verstanden oder nicht verstehen wollten und dem Uhrenräuber, aber auch mir, den Weg frei gaben. Er war mit seinen schweren, hohen Reiterstiefeln kein guter Läufer, und ich blieb ihm dicht auf den Fersen, aber er wäre mir hinter dem Kasernentor sicher entkommen, wenn nicht Rettung genaht wäre. Ein Offizier in dunkelgrüner Uniform mit breiten, goldbetreßten Schulterstücken trabte, von seinem Burschen gefolgt, auf einem Apfelschimmel gerade aus dem Tor heraus, sah den Dieb und mich und brüllte dem Kerl, dem Großvaters Uhrkette aus der Hand herausbaumelte, ein scharfes »Stoj!« entgegen, das den Mann so plötzlich zum Halten brachte, daß ich Mühe hatte, nicht auf ihn aufzurennen. Der Offizier sprang von seinem Pferd herab und gab seinem Burschen die Zügel.
»Was gibt es, Junge?« fragte er in gutem Deutsch.
»Der Soldat hat meinem Großvater die Uhr gestohlen!« antwortete ich keuchend und sah mich nach Großvater um, der weit hinten gerade um die Ecke bog. Der Offizier, ein Stabsmajor, winkte den Uhrendieb mit einer Fingerbewegung zu sich heran. Der Muschik baute sich vor ihm in strammer Haltung auf und antwortete auf eine Frage des Majors mit einer Lautstärke, daß man meinen konnte, er halte den Major für taub, aber das war, wie Großvater mir nachher erzählte, der russische Drill, daß ein gemeiner Soldat die Fragen eines Vorgesetzten mit aller Stimmkraft zu beantworten hatte. Der Major nahm ihm die gestohlene Uhr ab und befahl zwei herumstehenden Soldaten, den Uhrendieb in die Mitte zu nehmen und mit ihm zur Kaserne abzumarschieren. Inzwischen war auch Großvater herangekommen. Der Schweiß lief ihm in hellen Bächen über das Gesicht, sein Kragen war völlig aufgeweicht, er atmete schwer und preßte die Hand gegen sein Herz.
»Nun beruhigen Sie sich schon, alter Herr«, sagte der Major und gab ihm seine Uhr zurück, »und entschuldigen Sie, daß diese Schweinerei passiert ist. Es gibt eben bei jeder Truppe ein paar Halunken.«
»Ich weiß, Herr Major«, sagte Großvater, »ich war selber Soldat. So etwas kommt vor...«
»Leider!« sagte der Major mit verkniffenem Gesicht, denn Großvaters Worte hatten gerade so geklungen, als ob er nur aus Höflichkeit zugegeben hätte, daß so etwas auch bei den Preußen möglich gewesen sei. »Aber Sie sollen sehen, alter Herr, und Ihr Enkel soll es auch wissen, daß in der kaiserlich russischen Armee
Weitere Kostenlose Bücher