Fröhliche Zeiten
durchgemogelt, gewissermaßen mit italienischem know how. Und nun dieser Sturz in teutonische Legalität, in die zweite Stunde Null, die Stunde Null-Null — ein Volkstrauertag, den man zeitlebens nicht vergessen würde.
Aber merkwürdig.
Dank der Gnade des Schöpfers speichert der menschliche Bordcomputer Schreckensdaten widerwillig und lückenhaft.
Nur so viel ist mir geblieben: Weil in der Schaubude die Gage stagnierte, zog ich, aus Existenznot wortwörtlich im Zug-Zwang, auf einem Leiterwagen ein geerbtes Harmonium fünf Kilometer weit durch die Stadt, um es in einem Musikhaus anzubieten — ein Kulturgerät, ausgerechnet jetzt, wo das Schöne, Erbauliche allerkleinst geschrieben wurde.
Für 20,- D-Mark hätte ich es hergegeben, hergeben müssen, wenn der Inhaber bereit sein würde, mir die Hälfte seines Kopfgeldes dafür auf den Ladentisch zu blättern. Als er zu meinem Ansinnen nickte, erschrak ich, und nach Probe sämtlicher Tasten und Register gleich noch einmal über den Preis, den zu bezahlen er vorschlug: das Kopfgeld einer Familie mit Kindern.
Wie war das möglich? Durften außer den Kirchen auch Musikalienhändler eins zu eins Umtauschen? Nun ist ein Harmonium für sakrale Zwecke ja besonders geeignet. Vielleicht hatte der gute Mann eine Pfarre in der Hinterhand, die das Instrument zum Dankgesang für das klerikale Umtauschwunder noch am selben Abend dringend benötigte? Zum Halleluja mit Kollekte — Musik macht Opfer leichter.
Ich nahm die wundersame Fügung als Zeichen. Neue, knitterfreie Scheine in der Tasche, machte ich mich mit dem Leiterwagen auf den Heimweg. Nicht selbstzufrieden wie ein Geschäftsmann nach erfolgreichem Abschluß, vielmehr demütig, pilgerselig, als zöge ich eine Marienstatue durch das Spalier einer Prozession: das Schicksal schien an meiner Vernichtung vorerst nicht interessiert.
Im Lauf der Jahrzehnte ist die Andacht verblaßt. Der schwarze Tag hellt sich auf in der Erinnerung. Auch Freunde werden nicht mehr kleinmütig, wenn ich sie auf das Datum anspreche. Ohne Harmonium haben sie’s gar vergessen.
Axel von Ambesser überlegte lange, bei großem Mienenspiel: »Ach weißt du«, meinte er schließlich, »von der Währungsreform hab ich nicht viel mitgekriegt. Ich hatte ja mein festes Engagement an den Kammerspielen .« Freund Boris versank zunächst in eine Pause, bevor er mit schwäbischem Hintersinn aus den grauen Zellen zurückkehrte: »Also daran kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Da war ich, glaub ich, verreist .« Schusch Roemmich, der Architekt, griff auf Anhieb ins richtige Regal: »Ich hatte damals schon ziemlich viele Aufträge. Die Leute konnten nicht alle gleich zahlen. Da hab’ ich bei ihnen reihum ä conto gegessen .«
Wie sehr brennende Wünsche Erinnerung konservieren, beweist meine Kollegin von der Schaubude, die spätere Fernseh-Moderatorin Ruth Kappelsberger: »Ich weiß es noch genau. Mit den 40,- Mark bin ich ins nächste Feinkostgeschäft gestürzt — es gab ja plötzlich wieder so viel — und habe mir einen Traum erfüllt: Für sechs Mark Tomatenketchup !«
Dutzendfach war zu erfahren, wie großzügige Gläubiger offenbar mit dem alten Geld auch ihren bisherigen Charakter umgetauscht hatten. Unerwartet standen sie vor der Tür, um Schulden einzutreiben. Bei einfallsreichem Widerstand wenigstens ratenweise.
Manch einer mißtraute der neuen Währung und tauschte sein Kopfgeld in die bisher verläßlichste Währung um, in amerikanische Zigaretten. Das Päckchen zu 5 D-Mark. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er für eine Zigarette 5 Reichsmark bezahlt. Die Abwertung zum Besseren blieb nicht auf überquellende Schaufenster beschränkt. Armin Eichholz, der Münchner Theaterkritiker, erinnert sich mit präziser Zeitangabe, nämlich vierundzwanzig Stunden nach dem Umtausch, an den ersten, nicht schwarzen Genuß: Erdbeeren mit Schlagsahne offiziell in einem Restaurant am Englischen Garten.
Je größer die Familie, desto größer der Schreck, wie es nach dem Zwangsumtausch weitergehen solle. Doch bald folgte das Aufatmen. Fünf zu stopfende Mäuler brachten immerhin 200,-D-Mark. Damit konnte die Hausfrau fürs erste jonglieren.
Der 20. Juni 1948 markiert zweifellos die große Zäsur. Auch wenn sich zunächst weniger änderte als befürchtet. Weiterhin lebten wir uns selbst überlassen, die eingefädelten Verbindungen blieben unberührt. Der Schwarze Markt zeigte sich staatsresistent. Ja, er verfestigte sich durch den Eingriff von oben
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