Fröhliche Zeiten
alle Begriffe eingedeutscht, fröhnt man jetzt dem gegenteiligen Extrem.
Nicht unbedingt aus Freude an der Sache, mehr aus Mitläufergesinnung, weil man eben zu haben hat, was die andern haben, mitmacht, was sie tun, laufen Millionen mit Buchstaben, Nummern und Emblemen auf Kleidung und Gerätschaft als unbezahlte Werbemannequins herum. Wer die richtigen Marken vertritt, lebt offenbar besser, gesünder, ist klüger, glücklicher, kann teurer essen, länger am Strand liegen, sich mehr kaufen, öfter lieben, weiter weg fliegen und braucht das alles für sein Image, oder, ausnahmsweise auf deutsch ausgedrückt: zu seiner Selbstverwirklichung.
Damals wurde die Weiche gestellt, damals, als wir Habenichtse nach greifbaren Segnungen des Fortschritts strebten und zwielichtige Existenzen sie schon besaßen. Zu verständlich waren die Anfänge, um ihnen zu wehren. Bis die Täuschung erkannt wurde, hatte sie Arbeitsplätze geschaffen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten. Zynische Werbemethoden haben unser Denken vergiftet, haben die freie Welt in eine Diktatur der Gier verwandelt. Vor unserem Erfindungsgeist droht uns das Lachen zu vergehen. Nicht umsonst denken Ältere an ihr Überleben, ihre Bescheidenheit, ihr einfallsreiches Durchwursteln als die glücklichste Zeit zurück.
Gewissensakrobatik
Bei Manfred Schmidt war das Nord-Südgefälle besonders groß. Die Feldherrenkunst des Österreichers hatte den gebürtigen Bremer ins südlichste Bayern, in ein Dorf unweit von Lindau, verschlagen. Dort verschaffte ihm hanseatische Kühle, diszipliniertes Auftreten sowie eine politisch blütenweiße Weste rasch Ansehen und Vertrauen.
Manfred Schmidt, dessen satirische Reportagen aus aller Welt für die Zeitschrift Quick ebenso unvergessen sind wie seine Karikaturfigur Nick Knatterton, wurde bald nach Wiedereröffnung der Gerichte als Schöffe bestellt. In Lindau gehörte er einem Rechtsterzett an, bestehend aus einem Richter, einem Rechtsunsicheren, der sich bei jeder Entscheidung der Ansicht des Juristen anschloß, und ihm.
Manfred Schmidt nahm die Pflege demokratischen Rechtsbewußtseins ernst. Nie schloß er sich eilfertig der Mehrheit an, vielmehr entschied er jeweils nach bestem Wissen und Gewissen.
Privat dagegen gehörte er zur schleichenden Mehrheit, die ihren Lebensunterhalt über den Schwarzmarkt bestritt. Statt legal zu verhungern, womöglich beim Rechtsprechen ohnmächtig zu werden, päppelte er seine Kräfte nach bestem Vermögen und Verdienst. Ohne Behinderung durch sein Amt prüfte er die neue Freiheit beim Fischen im Trüben.
Diese Arbeitsteilung kam ihm als Schöffe zugute. Wahrhaft humane Rechtsprechung setzt, neben Kenntnis der Gesetze, vor allem Kenntnis der Lebensumstände voraus. Verstand und Verständnis machten seine Urteile zeitnah. Durch Schwarzhandel bewahrte er sich Augenmaß und Mitgefühl. Daß er nie erwischt wurde, war Voraussetzung und verriet souveränen Überblick. Manfred Schmidt mehrte das Ansehen des Gerichts aus Mangel an Beweisen.
Trotz schwindelfreier Integrität sollte ihm eine schwere moralische Prüfung nicht erspart bleiben. Denn wer stand da eines Tages in der Gerechtigkeitsfabrik vor ihm? Der Anblick drohte selbst hanseatische Conté-nance ins Wanken zu bringen — sein Oberschwarzhändler, der Mann, der alles von ihm wußte, was nicht nur kein Gericht je erfahren durfte.
Wie würde der Mann sich verhalten? Würde er den Schöffen gleich begrüßen — womöglich per Du — ihn zum eigenen Schutzschild umfunktionieren? Den Biedermann spielen, der sich, bei solchem Vorbild, keiner Schuld bewußt sein kann?
Jeden Augenblick konnte allein der Blick des Auges alles verraten. Oder ein dreister Satz. »Wenn ich gewußt hätte, daß ich Sie hier treffe, hätte ich das Schweinefleisch und die Butter gleich mitgebracht !«
Was dann? Sich als befangen erklären und die Seite wechseln?
Sekunden wälzten sich dahin. Pokerstarr, nur die Blicke ineinander verhakt, hielten beide einen stummen Dialog.
Sag nichts! Vielleicht kann ich dich raushauen.
Hau mich bloß raus! Sonst gnad’ dir Gott!
Bleib ganz ruhig! Ich tu’, was ich kann.
Zunächst ging es gut. Niemand konnte bemerken, daß sie einander nicht zum ersten Mal gegenüberstanden.
Während der Richter die einzelnen Punkte der Anklage verlas, nickte der Schöffe ebenso verwundert wie bewundernd.
Donnerwetter!
Was da zur Sprache kam, hatte er seinem Lieferanten nicht zugetraut. Um daraus einen Freispruch zu
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